SEVEN UP Kommentar und Analyse zum gleichnamigen Stück (Diplomarbeit, Köln 1994)

 

Ausschnitt und Schluß von Kapitel 2:

(...) intermedielles Kommentieren bedeutet somit (...) Setzung. Dabei ist die Art und Weise des Setzens von assoziativen und zufälligen Entscheidungen durchaus abhängig; die Tatsache, daß das Bild "Scheren" mit dem musikalischen Takt 92 zeitgleich zu sehen ist, ist Kommentar und Setzung zugleich. Bei Kommentar und Setzung bliebe es, würde keine weitere intermedielle Entwicklung stattfinden.
Kontrapunkt ist die weiter entwickelte Form der Setzung, des Kommentars, hier z.B. Richten des Augenmerks auf die spiegelsymmetrische Anlage des Taktes mit seiner Entsprechung im Bild. Kontrapunkt ist überdies ein stark zeitbezogener Begriff, d.h. kontrapunktisches Verhalten entsteht sowohl zwischen zeitgleichem Bild und Ton als auch zwischen zeitversetztem Bild und Ton.

Negation ist schließlich alles, was über die beiden genannten Stadien hinausgeht, wobei Negation nicht mit dem Begriff Destruktion zu konnotieren ist. Negation in dem hier gemeinten Sinn bedeutet formale und inhaltliche Umdeutung bzw. Weiterentwicklung bereits "gesetzter" und "kontra-punktierter" Materialien, d.h. Negation des etablierten Materials. Hier: das Bild und seine formale Verwendung in Takt 128 sind, sobald sie in ihrer spiegelsymmetrischen Anlage erkannt werden, ein Kontrapunkt zur Musik, da hier wie dort vergleichbare formale Strukturmuster zur Anwendung kommen. Global (d.h.: diese Sequenz in Realtime betrachtend) entsteht jedoch ein völlig anderer Eindruck: da das Bild in Takt 128 einer "realen" Situation entspricht - KameraTravelling durch eine Stadt - und ein echter framegenauer Rücklauf nicht stattfindet, wird die Wiederholung z.B. des gelben Mercedes' am Anfang und am Ende der Sequenz nicht unbedingt als wörtlich-physikalische verstanden. Genauso gut kann von einer zufälligen Wiederholung - z.B. 2 gelbe und baugleiche MercedesTaxis werden nacheinander überholt - ausgegangen werden, da solche "Zufälle" im Straßenverkehr wahrscheinlich sind. Durch die Tatsache aber, daß der genannte VideoAusschnitt in diesem Fall linear und ungeschnitten erscheint, sich demnach auch nicht der musikalischen Spiegelsymmetrie dieses Taktes unterordnet, verändert sich auch seine Kategorisierung. Aus einem kontrapunktischen intermediellen Verhalten wird ein negierendes. Diese Ambivalenz ist natürlich beabsichtigt.
Konsequenz: eine schematische Kategorisierung der Materialien in Kommentar, Kontrapunkt und Negation kann nicht aufrecht erhalten werden, da die Zuordnung der gehörten und gesehenen Ereignisse stets von ihrer internen und intermediellen kompositorischen Entwicklung abhängt. Der zunächst freie BildKommentar (Takt 92, 1.-5.Achtel) mutiert im weiteren Verlauf durch seinen kompositorischen Gebrauch zu einem BildKontrapunkt (sowohl Takt 92, 6.-11.Achtel, als auch Takt 128 ganz - je nach Sichtweise), der später (z.B. Takt 178-181, Bild: BusLoop: die während der Loop auftauchende SpiegelSymmetrie - nach Erscheinen und kurzeitigem "Einfrieren" des MofaFahrers hinter dem Bus läuft die BusLoop rückwärts - hat keine (!) formale Entsprechung in der zeitgleich erklingenden Musik) soweit ein Eigenleben entwickelt, daß der direkte, d.h. synchron-syntaktische Zusammenhang zwischen den Medien verlorengeht. Am Ende der VariationsReihung erscheint der vormals kontrapunktisch gesetzte Gegenstand nun als Negation seines jeweiligen mediellen Gegenübers (Takt 182-186, Bild: die genannte BusLoop geht - über die syntaktische Grenze zwischen Takt 181 und 182 hinaus(!) - in ein Flackern und "SchnittGewitter" über, das die zeitgleich erklingende Musik vollkommen überlagert und kompositorische Techniken benutzt, die in der Musik überhaupt nicht und wenn, dann in wesentlich größeren Perioden gebraucht werden).
Daraus folgt:

3 Eine Hierarchie der Medien wird vermieden und
4 Eine Verdopplung inhaltlicher und/oder struktureller Vorgänge zwischen den Medien wird ebenfalls vermieden

Die strenge spiegelsymmetrische Anlage der Komposition wird durch die Montage der Bilder nicht durchgehend unterstützt, positiv ausgedrückt: die globale zeitliche Strukturierung der Bildabfolge erfolgt in Anlehnung an musikalische Vorgaben, ohne diesen wörtlich zu entsprechen, will heißen: Bild und Ton stehen in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander, in dem Rezeptions-schwerpunkt und Aufmerksamkeit zwischen den Medien hin und her gehen. Dabei ist keiner der beiden beteiligten Sprachformen unabhängig von der anderen zu betrachten, d.h. weder Musik noch Bild erzeugen autonom die vielfältigen formalen, kompositorischen und inhaltlichen Beziehungen zueinander, wie sie sich im Wechselspiel der Medien ergeben.
Beispiel: die Takte 1-19 korrespondieren mit den Takten 200 - 182, d.h. Takt 1 entspricht Takt 200, Takt 2 entspricht Takt 199, Takt 3 Takt 198, Takt 4 Takt 197, Takt 5 Takt 196 und Takt 6 Takt 195, wobei die anfangs beschriebene musikalische Exposition am Schluß in fast wörtlichem Rücklauf wiederkehrt. Die in "1 Optisches und musikalisches Material ..." gemachten musikalischen Angaben beziehen sich daher mit geringfügigen Änderungen auch auf die Takte 200 - 195. Der 200. Takt bekommt somit "mantrische" Funktion, obwohl das, was das musikalische Mantra an Entwicklungs-möglichkeiten barg, bereits kompositorisch entwickelt worden ist, dieser Takt somit in seiner Entsprechung zum 1. Takt nicht nur wie ein Rahmen wirkt, der den Schluß des Ganzen bildet, sondern - pessimistischer - auch als eine Rücknahme alles Erreichten verstanden werden kann, d.h. obwohl (kompositorische, formale, inhaltliche etc) Entwicklungen stattgefunden haben, kehrt die Musik nahezu unverändert zu ihrem Anfang zurück. Die eingangs gestellte Frage ob das "UnterwegsSein" wirkliche Veränderung bringt oder rastloses "auf-der-Stelle-Treten" ist somit musikalisch formal beantwortet.
Das Bild verhält sich anders. Die in Takt 1 - 6 gezeigten Bilder (S/W StraßenRand Unscharf <-> Farbe StraßenRand Unscharf <-> S/W Steinwurf <-> S/W StraßenRand Scharf <-> Farbe SteinMauer <-> S/W Junge passiert) werden durch eine einzige Einstellung in Takt 195 - 200 kontrapunktiert: das im Laufe des Stücks einige Male gezeigte Mädchen rennt dem abfahrenden Wagen hinterher. Charakteristisch für die AnfangsSequenz (Takt 1-6) war die stufenartige Einführung von "Sinn", bis hin zu einer rudimentären Kommunikation zwischen Bildgegenstand und Betrachter. Diese Kommunikation, als vorläufiger Endpunkt der "Sinn"-Entwicklung, bestand in dem kurzen, kaum wahrnehmbaren Wegdrehen des Kopfes des Jungen, der damit andeutete: ich will nicht gefilmt werden. (Warum er das tut, begreift man erst, wenn der Grund des Kopf-zur-Seite-Drehens, der im übrigen auch nicht durch die Sequenz erzählt werden kann, bekannt ist: streng islamisch erzogen ist die Abbildung des Menschen in jeder Form verboten.) Zusammenhang zwischen besagtem Schlußbild (Takt 195-199) und der AnfangsProgression (Takt 1-6), verbunden mit Steigerung der Intensität (Blicke (!)), besteht in der Zunahme der Kommunikation zwischen Bildgegenstand und Betrachter: das Mädchen läuft - nachdem sie einige Geldstücke von uns erhalten hatte - dem Wagen/der Kamera in der Hoffnung hinterher noch mehr Münzen zu bekommen und wendet sich, nachdem sie dies(en) nicht erreichen kann, enttäuscht ab. Verbindungen zwischen den Sequenzen sind deutlich: das Motiv des Abwendens kommt wieder, jetzt jedoch ist es mit einer Vorgeschichte versehen, die das Abwenden des Mädchens von dem des Jungens deutlich unterscheidet. Dessen Abwenden war nur außerbildlich (religiöses Abbildungsverbot) zu erklären, das Verhalten des Mädchens wird durch die im Laufe des Films von ihr gezeigten Bilder erklärbar: am AutoFenster hatte sie uns für einige Dirham zwei Äpfel verkauft; mit unserem Aufbruch bald danach war sie nicht zufrieden, da sie an uns noch nicht genug verdient hatte.
Der eigentliche, "mantrische" Rahmentakt (Takt 200) zeigt Schwarz. Diesem Schwarz entspricht syntaktisch der unscharfe, sowohl schwarzweiß als auch in Farbe gezeigte Straßenrand des Anfangs. Eine Funktionsverdopplung wird deutlich: so wie im positiven "hellen" Sinn die Lichtflecken des Anfangs symbolisch für die Menge aller möglichen und kommenden Bilder standen, ist das jetzt gezeigte Schwarz im negativen "dunklen" Sinn gleichbedeutend mit dem Ende aller (im Laufe des Stücks gezeigten) Bilder; das vorausgehende, verlangsamte Bild des nachlaufenden Mädchens besagt überdies: Abschied.
Aber: nachdem die Musik geendet hat, wird zusätzlich eine Einstellung angehängt, die über keine syntaktische Entsprechung am Anfang verfügt, da diese vor Takt 1, also vor Beginn der Musik hätte gezeigt werden müssen. Dieses Schlußbild ist eine echte Neuerung und somit kommentierende Setzung, da es keine architektonische Rechtfertigung besitzt. Eine Assoziation zu bereits bekannten Bildern stellt sich trotzdem ein; das AnfangsMotiv dieses Schlußbildes wird durch ein ähnliches Motiv, das im Laufe des Films einige Male gezeigt worden war, vorbereitet: durch einen Torbogen - vergleichbar in der Beleuchtung eben dem reich verzierten Stuckbogen - hindurchgehend zeigt die Kamera einen heruntergekommenen Innenhof, hinter dessen hohen Mauern die Sonne in einem strahlend blauen Himmel untergeht. Über die Dächer fliegt ein Vogel davon. Abblende Schwarz.
Dieses Bild steht formal außerhalb der Musik, d.h: es deutet den Nachall des Stückes (wörtlich zu verstehen, da wie am Anfang auch das KlavierPedal beim letzten Attack mit Verzögerung getreten, und in diese akustische "Abblende" das beschriebene Bild aufblendend hineingesetzt wird) um: erst im Ausklingen, Beenden, Abschließen, Vollenden, Abebben der streng konstruierten Form ist (über Mauer fliegende) "Freiheit" möglich. Damit setzt sich der StrukturSinn des Films über die "unfreie", weil palindromische Anlage und Grundhaltung der Musik hinweg: 1. weil die SchlußEinstellung außerhalb der formalen Ordnung des Ganzen steht, und 2. weil das Bild selbst symbolisch diese inhaltliche Bedeutung besitzt.
Konsequenz: Musik und Film arbeiten zwar mit vergleichbaren formalen Mitteln, in ihrer diese überlagernden Inhaltlichkeit entfernen sie sich jedoch weit voneinander, da Musik - vor allem die sog. Neue Musik - im Gegensatz zum Bild prinzipiell nicht "erzählen" kann und will. Die Assoziationskraft der Musik kann zwar zu Stimmungsbildern führen - grell, hektisch oder warm, ruhig usw -, aber sie erzählt im engeren Sinn nie Geschichten, d.h. das damit verbundene Zeitverhalten der Musik bleibt, obwohl es dem des bewegten Bildes ähnlich ist und darum kompositorisch vergleichbar benutzt werden kann, stets außerhalb der dichten inhaltlichen und erzählerischen Möglichkeiten eines Filmbildes, einer Filmsequenz, auch dann, wenn wie in diesem Fall der überwiegende Teil der Bilder weder in sich erzählend noch erzählend aneinander montiert ist, d.h.:

5 Medienspezifische Eigenheiten werden gebrochen im Sinne des synästhetischen Ansatzes der Arbeit benutzt

Betrachtet man das oben Gesagte als medienspezifische Eigenschaften, d.h. als für diese Medien konstituierende und elementare Strukturmuster, ist eine Brechung im Sinne des hier vorgestellten synästhetischen Ansatzes nur mit innerer Kenntnis des jeweils anderen Mediums möglich. Anders: aufgrund der Beschaffenheit der genannten elementaren Bauprinzipien der Medien Video/Film und Musik und ihren sprach- und sinnbildenden Funktionen ist ein Abweichen von ihnen nur bedingt, und wenn, dann mit Hilfe synästhetischen Denkens möglich, d.h.: die Musikalisierung des bewegten Videobildes entsteht nur bedingt durch zeitgleiches Erscheinen von akustischem Material, eher durch Übernahme und Anwendung musikalischer Kompositionstechniken auf das Bild. Im letzteren Fall kann zeitgleich dazu erklingende Musik verdoppelnd wirken, nämlich dann, wenn ihre Struktur mit der des synchron gesehenen Bildes identisch ist. (Man könnte erwidern, daß aufgrund der elementaren Unterschiede zwischen den Medien diese Redundanz nie als solche bemerkbar wird, da es sich immer um zwei extrem verschiedene Sprachsysteme handelt, so daß Sprachverdopplungen selten auffallen; dann muß man jedoch auch hinzufügen, daß der überwiegende Teil der zum bewegten Bild gehörten Musik, sich diesem absolut unterordnet und von vornherein nicht den geringsten Versuch unternimmt, Kontrapunkt , Kommentar oder gar Negation zu sein. ) Umgekehrt: die "Verbildlichung" der Musik entsteht nur bedingt durch zeitgleiches Erscheinen von optischem Material, eher durch Übernahme und Anwendung filmischer Kompositionstechniken auf die Musik. Das bedeutet u.a. ,daß Musik, die zu einem bestimmten, sehr ausdrucksstarken und erzählenden Bild erklingt, bei einem nochmaligen, späteren Erscheinen vom Bildinhalt soweit "infiziert" worden ist, daß das beim zweiten Mal gezeigte Bild in seiner Inhaltlichkeit durch das erste, "prägende" vollkommen verändert wird, oder noch weiter, daß die Musik auch dann Bilder im Kopf erzeugt, wenn real keine mehr zeitgleich zusehen sind (Beispiel: MundharmonikaRiff und Sopransolo in "Spiel mir das Lied vom Tod". Sobald eines der genannten Musikstücke erklingt, sind die dazugehörenden Bilder präsent). Diese den Verstand ausklammernde Abrichtung des Zuschauers und Zuhörers ist aber nicht gemeint. Der von mir verfolgte synästhetische Ansatz versucht dem Zuschauer filmischen Inhalt mittels musikalischer Kompositionstechnik nahe-zubringen, wobei sich naturgemäß der zuvor rein filmische Inhalt Bestandteile der an sich nichterzählenden Musik aneignet und so zu Erzählformen - jetzt im übergeordneten Sinne - kommt, die keines der beiden Medien autonom zu erzeugen vermag. In SEVEN UP bedingen sich darum mehrere Erzählebenen gegenseitig:
1. die abstrakte Ebene, die außer dem, was das Bild direkt zeigt, bzw. das, was die Musik direkt erklingen läßt, (zunächst) nichts weiter bedeutet, als das was erscheint und erklingt;
2. die Ebene des "UnterwegsSeins", die bereits einen synästhetischen Grenzfall darstellt, da die Filmbilder fast ausnahmlos "unterwegs" und/oder durch eine bewegte Kamera aufgenommen worden sind, andererseits aber auch "bewegt" und "unterwegsseiend" montiert, d.h. strukturbildend gesetzt sind und so eine spezifische Sprachlichkeit ausbilden, die für die Musik in ähnlicher Weise verpflichtend ist oder wird, z.B. über die im Laufe des Stücks enfalteten Bedeutungen der an sich bedeutungslos bestehenden palindromischen Anlage von SEVEN UP. Erst die kompositorische Anwendung spiegelsymmetrischer Modelle in verschiedenen syntaktischen Schichten (Harmonik, Metrik, Rhythmik etc) und deren zum (inhaltlichen, strukturellen, syntaktischen etc) Konflikt (z.B: zwischen den Medien) führender Gebrauch erzeugt eben die vieldeutige Inhaltlichkeit, die beispielsweise mit dem Begriff "UnterwegsSein" gemeint ist.
3. die Ebene des deutlich erzählenden Bildes (z.B.: Mädchen1+2, der Junge etc), die sich durch ihre nicht parametrisierbare Inhaltlichkeit - da diese z.B. nicht-zeitgebundene Dinge erzählt - am ehesten der nur zeitbezogenen Synästhesie entzieht. Hierher gehören Begriffe wie "Blick-in-die-Kamera-mit-ängstlichem-Gesicht", aber auch schon andere, zusammengesetzt-übergeordnete wie "Freiheit" und "Abschied"; diese kann eine in Parametern denkende, synästhetische Struktur (naturgemäß) nicht füllen.
Aber: keine der 3 Ebenen ist aus dem gemeinsamen Verbund herauszulösen und isoliert betrachtbar, da beispielsweise die Begriffe "Freiheit" und "UnterwegsSein" erst in der strengen, auskomponierten Umgebung den Sinn erhalten, den ich ihnen in diesem Zusammenhang beimesse: die Worte "Freiheit" und "UnterwegsSein" sind im alltäglichen (Medien)Gebrauch nicht mehr verwendbar, ohne eine Reihe negativer Konotationen hervorzurufen, die den emotionalen und wirklich berührenden SinnKern gnadenlos verdecken. Da Begriffe nicht ohne weiteres von ihrem "falschen" Gebrauch befreit werden können, muß die Umgebung, in denen sie auftauchen dahingehend verändert werden, daß der veränderte Kontext die Begriffe isoliert, um sie, weniger beeinflußt von massenhaft verbreiteten Klischeevorstellungen verstehbar zu machen. Film und Musik als ästhetische Sprachformen sind in vielerlei Hinsicht prädestiniert Umgebungs-veränderungen paradigmatisch vorzunehmen. Gleichzeitig fehlt hier - im Unterschied zu vielen anderen Erzählformen - jede Form des "In-das-Gewissen-Redens", was der rezeptionellen Ertragbarkeit des ästhetischen Objekts zugute kommt. Die beim abendlichen TV-Rundgang durch die diversen Sender oftmals zu bemerkende Verwechslung zwischen "Rührung" und "Aufklärung" habe ich in SEVEN UP allerdings gar nicht erst zu problematisieren versucht, da ich weder "rühren" noch "aufklären" will. Meine Absicht war die: Reste verschütteter Begriffe wie z.B. "UnterwegsSein", "Freiheit", "Abschied" usw. werden in ihrer unsentimentalen Bedeutung durch extrem geordnetes Bild- und TonMaterial vergegenständlicht und in einen rein strukturellen, "kalten", kompositorischen Zusammenhang gebracht, um ihnen durch die abgekühlte Umgebung den emotionalen Wert zurückzugeben, den sie als Sinnträger besitzen. Das ist das eine; das andere ist der Wunsch angesichts der nicht zu ertragenden inhaltlichen Nivellierung - z.B. der Begriffe "Wert" und "Ordnung" - und dem damit einhergehenden gedankenlosen Gebrauch - mittels ästhetisch eingegrenzter und eingrenzender Umsetzung in musikalische/bildnerische Parameter sie insoweit wieder mit akzeptabelm Inhalt zu füllen, daß sie weder zu verbaler Einschüchterung noch zu bedenkenlos dahingeplapperter Rechtfertigung für unscharfes Denken taugen. Daß der langwierig-schwierige Vorgang begrifflicher Klärung mittels ästhetischer Experimente ein immer subjektiv stattfindender ist und demnach keine über einen kleinen Kreis hinausgehende Wirkung erzielen kann, liegt in der Natur der Sache. Allerdings:

6 Reibung entsteht.

1 Auffälligster Eindruck von SEVEN UP ist die Verwendung sehr heterogener Bilder; zum einen (veränderte) RealVideoaufnahmen, zum anderen rein computererzeugte Bilder. Warum Computer-Animationen in diesem Bildzusammenhang? Behauptung: alle hier gezeigten Bilder - egal ob synthetisch erzeugt oder nicht - sind mehr oder weniger Texturen und Oberflächen, die wenigsten sind statisch, meistens sind sie nicht nur "bewegt" montiert, sondern sie verändern ihre Struktur auch innerhalb einer Einstellung. Die Begriffe "Oberflächen" und "oberflächlich" hängen dabei auf merkwürdige Art und Weise zusammen, obwohl sie vollkommen unterschiedlich gewertet werden. Dem Substantiv fehlt jeglicher negative Beigeschmack, den das Adjektiv kennzeichnet. Oberflächen sind jedoch "oberflächlich" im ursprünglichsten Sinn: sie zeigen und meinen nichts, als das was sie zeigen und meinen. Was unter den Oberflächen - räumlich, physikalisch, aber auch hermeneutisch verstanden - verborgen liegt, ist diesen selten anzusehen, ob überhaupt unter Oberflächen etwas verborgen oder letztlich alles erkennbare Oberfläche ist, bleibt fraglich. Aber: werden Oberflächen und Texturen moduliert, bzw. animiert entsteht Rhythmus, Puls, Atem - Ausdruck. Diese Form der Rhythmik hat 2 Vorteile: sie wird interdisziplinär kompatibel, da sie sich in Zahlen ausdrücken läßt und 2. sie bedeutet selbst in montiertem, rhythmisiertem Zustand zunächst nichts, als das, was sie zeigt: abstrakte, strukturelle, in Parametern beschreibbare Vorgänge. Das Fehlen jeder konkreten Inhaltlichkeit, bei gleichzeitigem, aggressiv rhythmischen Erscheinen führt zu bildinternen Spannungen, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers in extrem anderem Maße in Anspruch nehmen, als es bei "erzählenden" Bildern und Sequenzen der Fall wäre. Die dadurch gleichzeitig entstehende emotionale Abkühlung - weil Identifikationsmöglichkeiten nicht angeboten werden - und Aufhitzung - weil sich trotzdem etwas energetisch hoch Aufgeladenes mitteilt - bewegt den Zuschauer dazu, den gesehenen Bildern Ablehnung oder Zustimmung, Interesse oder Desinteresse, im weitesten Sinn also Haltungen entgegenzubringen, zu denen er sonst in den allermeisten Fällen nicht gezwungen wird; er wird genötigt dort Sinn zu erdenken, wo anscheinend jeder "sinnvolle" Zusammenhang fehlt. Da daß in großem Maße unbequem ist, ist der Erfolg dieses Ansatzes begrenzt, für mich aber angesichts der erschreckend perfekt funktionierenden, über die Medien massenhaft verbreiteten Opportunalisierung und Sinnverdrehung vieler durch Bilder vermittelter Ordnungs-Prinzipien überlebensnotwendig. Die mich umgebende Welt besteht, aller elektronischen Metaphysik zum Trotz, aus TexturModulationen und Oberflächen, ohne jede ethische Bewertung. Damit Sinn in ihr entsteht, ist die Anerkennung ihrer ohne Sinn bestehenden Existenz Voraussetzung, auch dann, wenn u.U. am Ende herauskommt, daß Sinn selbst Oberfläche ist.
2 Nicht weniger auffällig ist die sehr aggressive musikalische Sprache, die zu den "kalten" Bildern in einem spannungsreichen Verhältnis steht. Warum aggressiv? Der Ausdruck der Musik steht nicht nur zu den Bildern, sondern auch zu ihrer eigenen Machart in krassem Widerspruch. Die überall verwendeten palindromischen Modelle können metaphorisch für Kreislauf, Eingrenzung, Starrheit, Vergeblichkeit, kurz für geistige Gefängnisse aller Art stehen; der aggressive Impetus der Musik ist Kommentar und Widerspruch dagegen zugleich. Darüberhinaus ist es der Versuch, der banalen und rohen Erkenntnis von der "Oberflächlichkeit" der Dinge anderes entgegenzusetzen, und sei es auch nur aus dem Grund, daß die Erkenntnis einer Welt als funkelnden Oberfläche zwar wahr ist, aber einen dennoch frieren macht. Immerhin setzt konstruktive Aggression Energien frei, die diese Kälte ummünzen in vitale Regung, d.h.:
3 Reibung erzeugt Wärme. Vorhin war die Rede von Begriffsresten, jetzt könnten diesen Emotionsreste hinzugefügt werden, d.h. Wärmefunken entstehen selbst da, wo der Verlust einer begrifflich (oder sonstwie) geordneten Welt in Aggression umschlägt. Diese hat verheerenden Charakter, wenn sie untransformiert nach außen tritt, oder sie wird - z.B: ästhetisch transformiert - zum elementaren, lebenserhaltenden Antrieb in den Bereichen, die dem eigenen Aktionradius zugänglich sind - wenigstens da. Der dadurch sich äußernde vitale Handlungsimpuls ist Ursache für die (mir) einzig verbleibende Möglichkeit, den brutal vereinfachenden, aber erfolgreichen Welterklärungsversuchen kleine, sich ästhetisch artikulierende, und deswegen unvergleichlich wirkungslosere, weil komplexere Ordnungsprinzipien entgegenzuhalten, die - obschon voller Aggression gegen das Vorhandene - das stets dem Lebendigen Zugewandte meinen und darum in ihrer rührigen Machtlosigkeit und Beharrlichkeit wärmen - noch überspitzter geschachtelt: sarkastisch-wehmütige, kontrapunktierende Negation einer "palindromisch" angelegten geistigen Umgebung.

7 Ausblick

Zitat 3:
>>Alle diese Prozesse (die politischen Umwandlungen in Osteuropa in den vergangenen 5 Jahren - Anmerkg. des Autors) haben in jedem unserer Länder eine gemeinsame Wurzel. Die angewandte Schocktherapie, für die die Gesellschaften ihr Einverständnis nicht gaben und nicht geben konnten, bringt Frustrationen und Aggressionen hervor. Die Freiheit verwandelt sich in einen Zusammenbruch des Sicherheitsgefühls. Das Syndrom der Flucht vor der Freiheit taucht auf. Die Menschen wollen keine Freiheit, weil diese sie der Sicherheit beraubt. Sie wollen eine starke Macht, die Verbrechen und Unordnung bekämpft. Diese Macht kann sich der roten oder der schwarzen Fahne bedienen - das ist bedeutungslos.<<
Aus: Spiegel, Nr.2/10.1.94, Spiegelessay "Schirinowski, mon amour" (Seite 114ff) von Adam Michnik, Chefredakteur der Warschauer Tageszeitung Gazeta wyborcza.

Die Komposition SEVEN UP ist nicht das, was mit dem Schlagwort "politisch engagierte Kunst" belegt werden kann und sollte. Trotzdem sind in SEVEN UP in vielfältig gebrochener Weise Mechanismen zu entdecken, die denen, die uns gesellschaftlich umgeben ähnlich sind. Grundthema bleibt bei alledem der Umgang mit strengen oder weniger strengen Systemen und die jeweilige individuelle Reaktion darauf. Ästhetische Systeme können ersatzweise für andere, d.h. auch für gesellschaftspolitische Systeme stehen, der kompositorische Umgang mit jenen kann als Analogie zum jeweils individuellen Verhalten diesen gegenüber verstanden werden. Das gilt auch dann, wenn an der inhaltlichen, akustischen, optischen Oberfläche des Kunstwerks an keiner Stelle bekenntnishaft zu einem außermusikalischen, d.h. aktuellen politischen Thema Stellung bezogen wird. Ästhetische Abbildung und Transformation gesellschaftspolitischer Realität findet innerhalb eines ästhetischen Produkts auch dann statt, wenn sich dieses nach außen hin autonom-formalistisch darstellt. (Dies Phänomen ist z.B. in der Musikgeschichte ausgezeichnet zu beobachten.) Die Frage liegt nahe warum, wenn der Zuschauer/Zuhörer doch sowieso nichts davon bemerkt, überhaupt die Abbildung und Transformation gesellschaftspolitischer Strukturen innerhalb ästhetisch autonomer Produkte von Belang ist, kann ich bezogen auf meine Arbeit nur mit den bereits oben gemachten Angaben beantworten: das individuelle Bewußtsein vollkommener Machtlosigkeit angesichts der Übermacht ökonomischer, - d.h. Degradierung des Einzelnen zum Konsumenten - und national(istisch)er - d.h. Isolierung des Einzelnen zum Teilchen einer strategischen Masse - Strukturen und deren Erhaltung mittels machtvoller, weil kritiklos akzeptierter Begriffs- und Sinnverdrehungen, erzeugt ohnmächtige Wut. Diese hat, wenn sie untransformiert nach außen tritt, verheerenden Charakter oder sie wird - eben ästhetisch transformiert - zum elementaren, lebenserhaltenden Antrieb in den Bereichen, die dem eigenen Aktionradius zugänglich sind - wenigstens da!