Excerpt aus:

KOMPOSITION UND FILM
Projekt nach Motiven aus Camus' "Der Abtrünnige" für Orchester und Spielfilm.-
Essen: Verl. Die Blaue Eule, 1992
Folkwang-Texte II, Beiträge zu Musik, Theater und Tanz; Bd. 5

weitere Informationen zum hier behandelten Thema unter "Der Abtrünnige"

Einleitung

Mein Projekt beschäftigt sich mit Film und Musik. Die zusammenfassenden Begriffe Filmmusik und Musikfilm beschreiben das Vorhaben allerdings sehr unzureichend, da es nicht um Übernahmen alter Film-/Musiktechniken geht, sondern um die Entwicklung einer neuen medienübergreifenden Sprache, die beide Medien sinnvoll verknüpft.
Der Ansatz, beide Medien miteinander verknüpfen zu wollen, stammt von der alten Idee ab, verschiedene Zeitkünste zu einer einzigen zu vereinen, um so neue Formen der Expressivität und Geschlossenheit zu erreichen. Ideen zu einer Theorie des Gesamtkunstwerks sind bekanntlich alt, ihre praktische Ausformulierung im konkreten Kunstwerk jedoch nur spärlich vorhanden.
Der Film als ein junges künstlerisches Medium verbindet von sich aus mehrere künstlerisch gestaltbare Ebenen : Bild, Ton und Zeit. Er ist darum nicht nur das Medium synästhetischer Experimente überhaupt, sondern als Zeitkunst unmittelbar verknüpft mit der anderen großen Zeitkunst Musik.
Die Musik, im Gegensatz zum Film, verfügt über eine Jahrhunderte dauernde Entwicklungsgeschichte, in der sich die verschiedensten Methoden, Stile und Kompositionstechniken bis zu größter Perfektion entfalten konnten. Es liegt also nahe, Techniken, Methoden etc. des einen (älteren) Mediums auf das andere (neue) zu übertragen, um so neue ästhetische Bereiche zu erschließen, die ohne synästhetisches Denken nicht erschließbar wären.
Musik zum Film besteht, seit es den Film gibt. Dieser Umstand sagt jedoch nichts aus über die synästhetische Qualität der zeitgleich erscheinenden Medien. Musik hatte bislang stets dienende Funktion und verlor im Zusammenhang mit bewegten Bildern ihre eigene hohe Ausdrucksstärke, d.h. sie wurde zum akustischen Verdoppler optischer Vorgänge.
Nach einem kurzen (konzeptionellen und kompositorischen) Höhenflug in den 40er Jahren regredierte Filmmusik zu einem bloßen Ajouté bewegter Bilder. Seit die Schallplattenindustrie den Filmmarkt ökonomisch kontrolliert (50er Jahre), werden hauptsächlich Songs, die auch über Schallplatte vertrieben werden konnten, als Filmmusik eingesetzt. Von originaler, eigens für den jeweiligen Film entstandener Filmmusik kann man seitdem (zumindest was den amerikanischen Markt angeht, der unsere Massenmedien entscheidend bestimmt) kaum noch sprechen.
Meine Absicht, angesichts der ökonomischen Zwänge der Filmindustrie ein neues Miteinander beider Künste zu entwickeln, erscheint rührend und aussichtslos zugleich, nichts desto weniger ist die präzise Ausformulierung einer neuen Sprache zwingender denn je, da der rasant zunehmende Konsum kommerziell erzeugter Filme eine mehr oder minder starke geistige, in jedem Fall aber massenhaft gelingende Einflußnahme aufzeigt; der Konsument wird weniger als geistiges Wesen denn als Quelle hoher materieller Gewinne geschätzt. Die Konsequenz ist die breite Anpassung an den Massengeschmack. Umgekehrt glaubt der Konsument, er konsumiere freiwillig, wobei er längst aufgehört hat zu hinterfragen, wie frei seine Konsumentscheidungen tatsächlich gefällt wurden.

Zum Projekt: Von Juli 1989 bis September 1991 arbeitete ich im Rahmen der Graduiertenförderung des Landes NRW (Mentoren: Prof. Klaus Armbruster für Film (Universität Essen) und Prof. Wolfgang Hufschmidt für Komposition (Folkwang-Hochschule Essen)) an der Entwicklung einer Notation für den Film und gleichzeitig an einem umfassenden Werk, das die Notation von Film mit der traditionellen und neueren musikalischen Notationsweise verknüpft. Das Projekt beschäftigt sich formal-theoretisch mit den speziell kompositorisch bearbeitbaren und verschränkbaren Parametern beider Medien, die erst im Vorgang des Notierens zu präzise disponierbaren Größen werden, konkret-praktisch mit der Komposition und Notation eines Spielfilms und dazugehörender Musik. Titel:
Der Abtrünnige (1989-91)
(unter Verwendung von Motiven der gleichnamigen Erzählung von Albert Camus)
für 2 Orchester, 2 Chöre, Vokal- und Streichquintett und Spielfilm (S/W und Farbe); Aufführungsdauer: 90min.
Warum Notation für den Film?
- Pragmatisch: Die Durchführung eines solchen kompositorischen Vorhabens ist ohne Notation aufgrund der Menge der anfallenden Daten nicht zu leisten.
- Arbeitstechnisch: Meine Vorgehensweise bestand darin, mir zunächst, wie es üblich ist, ein Treatment zu schreiben, das in grober Form zum Sammelbecken aller Filmideen wurde, die ich hatte. (Dieser noch ungenaue Filmplan wird in der Regel später durch das Drehbuch ersetzt, das jedoch über die präzise Ausformulierung der Dialoge und groben Handlungsanweisungen nicht hinausgeht und keine genauen Angaben über die Bildvorstellungen des Autors macht.) Da ich von Anfang an weitgehend auf die Dialogsituation, d.h. auf das gesprochene Wort verzichten wollte, ergab sich die Notwendigkeit, die Bildvorstellungen in einer neuen Form zu fixieren. In der Regel waren die Bildvorstellungen so komplex, daß sie verbal nur sehr umständlich hätten erklärt werden können. Dieser Umstand erzwang nicht nur eine graphische Notation, sondern auch eine Art Bildreduktion, die zwar den Bildaufbau deutlich erkennen ließ, darüberhinaus aber nicht den Versuch (und Fehler) begehen sollte möglichst viele Bilder möglichst genau auszumalen. Konsequenz: Die notierten Bilder mußten
- sich auf die wesentlichsten bildkompositorischen Merkmale konzentrieren und
- sich jeder Form von Inhaltlichkeit enthalten; d.h.: eine durch Bildanalyse (=Hauptvektoren und Helligkeitswerte) gewonnene, abstrakte Darstellungsform des (vorgestellten) Bildes wurde eingeführt.
- Kompositorisch: Die gegenseitige Einflußnahme zwischen Erfindung von Filmbildern und deren Notation haben eine ungeahnte Vielfalt an Verknüpfungstechniken, sowohl zwischen Bild und Ton als auch filmintern, zur Folge gehabt. Ohne die Auflage, den Film ebenso exakt zu notieren, wie Musik seit Jahrhunderten notiert wird, wäre das Projekt dem hohen kompositorischen Anspruch nicht gerecht geworden. Die Notation ermöglicht, auf den Bruchteil einer Sekunde genau, exakte Bestimmung meiner Bild- und Musikvorstellungen. Zu jedem Zeitpunkt während der Entstehung der Partitur des Films war es möglich, miteinander korrespondierende Abschnitte, Passagen, Einstellungen, Kamerafahrten, Objektbewegungen etc. des Films kontrolliert kontrapunktisch zu verwenden. Der strenge Aufbau der Großarchitektur (hier: ein doppelter Variationszyklus) erzeugt eine inhaltliche Sujetspannung, die nicht nur aus der Handlung des Films stammt, sondern in dialektischer Wechselwirkung diese auch kommentiert. Durch das beständige Wechselspiel zwischen strengstem Formdenken und freier Erfindung entwickelten sich Filmqualitäten, die vorher so nicht denkbar waren. Entscheidende Szenen des Films wären ohne Notation nicht erfunden worden, da erst die Präzisierung der Bildidee und Bildfolgen auf dem Papier und das gleichzeitige präzise Wissen um die formale Bedeutung der jeweiligen Stelle neue Bildideen und Entwicklungen zur Folge hatte. Das in der neueren Kompositionstechnik verwendete dispositionelle Denken, das dem Kunstwerk vor Beginn seiner eigentlichen Entstehung eine Reihe von später benötigten Grundmaterialien voraussetzt, ermöglichte damit ein streng durchformuliertes Materialdenken auch für den Film. Konsequenz: Die Filmhandlung findet ihre kompositorische Umsetzung in der Filmtechnik und umgekehrt.-

Zum Inhalt des Films: Dem Film liegen Motive der Erzählung "Der Abrünnige oder ein verwirrter Geist" von Albert Camus zugrunde (aus: Albert Camus, Gesammelte Erzählungen, Rowohlt Verlag, Hamburg 1966,´Der Abtrünnige oder ein verwirrter Geist´ S.127-145). Sehr eindringlich erzählt Camus von der Entwicklung eines Mannes, der, ohne seinen Standpunkt reflektieren zu können, erst zum Werkzeug (=Täter), dann zum Opfer einer ihn fremd bestimmenden Macht wird. Aus dem Opfer wird wenig später wieder ein Täter, allerdings handelt er nun für die "andere" Seite. Die Qualität seines Tuns verändert sich dadurch nicht, da er den Mechanismus nicht durchschaut, der ihn zum Täter und Opfer werden ließ. Spät erkennt er, daß sein Opfer vergeblich war und er umsonst gelitten hat. Von dem daraus resultierenden Rachewunsch kann er sich jedoch nicht befreien, so daß er schließlich seinen Nachfolger, der ihn ablösen soll, als einzigen erreichbaren Vertreter jener Macht, die ihn demütigte, umbringt. Die Macht, um die es geht, ist die europäische Kirche. Der Mann, der zum Werkzeug dieser Macht wird, ist ein Missionar, der in eine kaum bewohnbare Gegend der algerischen Salzwüste geschickt wird, um einen dort lebenden unzähmbaren Stamm zu christianisieren. In der Salzstadt trifft er aber auf unbrechbare und unberechenbare Gegner, im Gegenteil: er wird gebrochen. Er verliert seine Zunge. Der Verlust seiner Sprache vollendet den sich langsam abzeichnenden Bruch: er flieht aus der Salzstadt, jedoch nicht um sich in Sicherheit zu bringen, sondern um sich an der Macht zu rächen, die für sein unsagbares Leiden verantwortlich ist. Der einzige Vertreter dieser Macht ist sein Nachfolger, der, da er selbst seit langem als verschollen gilt, in einigen Tagen eintreffen soll. Der Gefangene besitzt ein Gewehr. Mit diesem verläßt er eines Nachts die Salzstadt und lauert auf der Taghaza, der Wüstenpiste, auf den Mann, den er umbringen will.
Im Rückblick aus dieser Position erzählt der Film paradigmatisch und in dichter Verknüpfung Situationen seines Lebens, d.h. der Film schildert die Ereignisse nicht chronologisch und benutzt nur in Ausnahmefällen das gesprochene Wort. Der im Film behandelte Gewaltbegriff erklärt sich nicht durch Dialoge und gesprochenes Wort, sondern durch die dem Film als optisches Medium innewohnende Möglichkeit, Sachverhalte und Inhalte sowohl formal-grammatikalisch als auch bildnerisch zu beschreiben, um ihnen damit die beklemmende Unausweichlichkeit zu geben, die sie in der Realität des Protagonisten längst besitzen. Thema des Films ist somit die strukturelle Gewalt, die sich dem nicht reflektierenden Menschen stets diffus und unpersönlich zeigt. Dieser Gewalt entspricht die rigorose Strenge des Aufbaus des Gesamtstücks. Die Beklemmung geht von allem aus, das irgendeinmal zufällig mit der erlebten Gewalt zu tun hatte. Das entspricht der allgegenwärtigen Material-verwandtschaft aller am Aufbau des Stücks beteiligten Parameter.
Der Rezipient empfindet zunächst mehr für und durch die Hauptperson des Films. Dabei wird dem Zuschauer die Identifikationsmöglichkeit allerdings nicht aufgedrängt, sondern er wird durch die kontrastierende Erzähltechnik zunehmend gezwungen, auch andere Positionen als die des Protagonisten kennenzulernen. Dadurch entfällt eine durchgehende Identi-fikation mit der Hauptfigur. Der Blick des Zuschauers wird gerade so mitleidlos, wie der Protagonist selbst seine Umwelt erlebt. Der ständig wechselnde Erzählerstandort macht den Rezipienten gleichermaßen zum subjektiven, in der Szene agierenden, aber unerkannt bleibenden Voyeur, zum (scheinbar) objektiven Beobachter und zum subjektiv empfindenden Hauptdarsteller. Im schnellen Wechsel der Kameraeinstellungen und Erzählerstandorte verändert sich das Bild der Realität.
Film und Musik bleiben architektonisch-formal verbunden. Zu keiner Zeit entsteht die herkömmliche Film-Musik-Situation, d.h. die Musik beteiligt sich weder mit der bekannten Leitmotivtechnik, die einzelne Personen musikalisch kenn-zeichnet, noch mit Atmosphäre schaffenden Tongemälden am Geschehen des Films, sondern sie wird selbst kompositorischer Schauplatz der im Bild dargestellten strukturellen Gewalt. Verschiedene musikalische Materialgewalten, wenn man so sagen kann, verhalten sich zueinander wie die im Film aufeinandertreffenden, ohne den bildnerischen Vorgang zu verdoppeln. Der Verlust der romantisierenden Funktion von Musik ist die konsequente Schlußfolgerung! (...)

Ein zentraler Bestandteil des Projekts ist die Notierbarkeit bewegter Bilder. Der folgende Abschnitt erläutert die wesentlichen Bestandteile einer Filmpartitur.

D Notation
Die Notation der oben abgebildeten Beispiele diente der Erklärung des möglichen Zusammenwirkens von Bild und Ton, befriedigend ist sie für eine umfassende Fixierung von Film und Musik nicht. Der durch Zeiteinheiten (1-8) gegliederte Ablauf ist viel zu grob, um eine genaue zeitliche Beziehung zwischen beiden Medien zu erzielen. Mehrere Bedingungen muß eine Filmpartitur erfüllen, soll sie synchron zu einer Musikpartitur lesbar werden:
- Dem Filmgeschehen muß, wie dem musikalischen auch, eine gleichmäßige Zeitquantelung zugrunde liegen, die alle beliebigen Stellen des Films und der Partitur syntaktisch-zeitlich exakt bestimmbar macht. In der Musik wird unterschieden zwischen Takt und Metrum. Während durch das Metrum, das der pulsenden Zeitquantelung entspricht, auch das Pulstempo angegeben werden kann, besteht der Takt in der Regel aus mehreren, in den traditionellen Kompositionstechniken meistens anzahlgleichen Pulsschlägen und bildet somit eine übergeordnete, aber auch gleichbleibend gequantelte Strukturierung im musikalisch-zeitlichen Ablauf. Die Mensurierung der Pulsschläge (=Metrum) ist dagegen nicht streng fixiert, d.h. verschiedene Pulslängen können sich auf verschiedene Weise, meist quadratisch {1:1 (Viertel zu Viertel), 1:2 (Viertel zu Achtel), 1:4 (Viertel zu Sechszehntel) etc.} zueinander verhalten. Die dynamische Handhabung der Mensurierung des Metrums ermöglicht eine hochauflösende Zeitpunkt- und Zeitereignisbestimmung - vor allem dann, wenn von der quadratischen Bezugnahme einzelner Pulslängen aufeinander abgesehen wird - und garantiert präzise Notation hochkomplexer kompositorischer Zeitvorstellungen des Komponisten. Die traditionelle Rolle des Taktes als gleichmäßig pulsendes Makrometrum hat sich in den letzten 100 Jahren hin zu einer freien funktionalen Handhabung entwickelt, d.h. die traditionelle Funktionsverwandtschaft zwischen Metrum (=Puls) und Takt hat sich zugunsten einer freieren Pulsmengenbesetzung pro Takt verändert. In der neuen Musik variieren mitunter Taktarten in kürzester Zeit so häufig, daß der Begriff Makrometrum für den Takt nicht mehr gelten kann. Der musikalisch besetzte Begriff ´Takt´ entspricht daher in der folgenden Filmpartiturbeschreibung in etwa dem globaleren Begriff ´Abschnitt´ bzw. ´Teilabschnitt´.
- Wie festgestellt, bildet der Film konkret optisch ab. Konkret-optische Abbildung findet nur im realen dreidimensionalen Raum statt (sieht man einmal von computeranimierten Produktionen ab!) und zwar in mehrfacher Hinsicht:
- Bei der Filmaufnahme agieren alle Beteiligten (Schauspieler, Regisseur, Kameramann etc.) in einem dreidimensionalen Raum.
- Trotz der Reduktion der realen Dreidimensionalität auf den zweidimensionalen Film beinhaltet das Leinwandgeschehen stets die Illusion einer Dreidimensionalität.
- Musik besitzt wie der Film die Zeitdimension, die Räumlichkeit in beiden Medien wird jedoch unterschiedlich verstanden, d.h. der musikalische Raum ist qualitativ verschieden vom realen Raum, in dem der Film stattfindet, und meint, wenn er begrifflich musikbezogen benutzt wird, zunächst virtuelle Räume: Klangfarbenraum, Tonhöhenraum, Oktavraum etc.
Umgekehrt: jede Musik findet, selbst wenn sie von der Schallplatte kommt, ebenso wie Film im Raum statt, d.h. sie kann ähnlich dem Film Raumvorstellungen erzeugen, bzw. sie sogar kompositorisch behandeln. Eine genaue Abgrenzung beider Raumzustände ist schwer zu definieren:
- Filmgeschehen ist nicht nur immer dreidimensionales (wenn auch illusionierendes) Raumgeschehen, sondern die Abbildung dreidimensionaler Räumlichkeit ist konstanter und konstituierender Wesensgehalt des Films!
- Jede Musik erklingt zwar im realen dreidimensionalen Raum, ist aber nicht wesentlich gebunden an ihn, da sie sich unabhängig vom realen Raum virtuelle Räume schafft, die in ihrer Wirkungsweise den real dreidimensionalen Raum in sich aufheben, ihn aber nicht für ihr wesentliches Vorhandensein benötigen!
- Das bedeutet, daß der dreidimensionale Raum in die (zweidimensionale) Darstellung des Films auf dem Papier wesentlich eingehen muß, da er unverzichtbarer Bestandteil des Films ist.
- So wie der Film die Illusion einer Dreidimensionalität auf der Leinwand erzeugt, muß eine Notation die Dreidimensionalität auf dem Papier erzeugen.
- Um der immensen Menge abzubildender Daten während des Notationsvorgangs auf dem Papier zu entgehen, soll sich die Notation für den Film auf möglichst wenige, jedoch charakterisierende Bildmerkmale beschränken, so daß sich ein mit einer Musikpartitur vergleichbares Realtime-Lesetempo ergeben kann.
- Kann die Zeit- und Raumdarstellung innerhalb der Notation für den Film befriedigend gelöst werden, wird die simultane Lesbarkeit von musikalischen und filmischen Informationen denkbar.

Notationsansatz:
Erläuterung:
Feld 1: Das 1.Feld zeigt die Bildkomposition, wie sie der Kameramann durch das Objektiv wahrnimmt, bzw. der Zuschauer auf der Leinwand sieht. Die Bildkomposition definiert sich durch Bildvektoren und Bildgrauwert. Unterhalb des Feldes wird die Einstellungsgröße notiert (Makro -> Supertotale).
starker Vektor: drei parallele Linien,
mittlerer Vektor: zwei parallele Linien,
schwacher Vektor: eine Linie.
Die Bewegungsrichtung der Vektoren wird, bei senkrechter Bewegungsrichtung zur Vektorrichtung, durch kleine Dreiecke, bei Bewegungsrichtung in Vektorrichtung durch Pfeile an den Vektoren angegeben. Bewegungen, die aus dem Bildkompositionsfeld herausführen, werden durch Pfeile, bzw. Dreiecke außerhalb des Feldes gekennzeichnet.
Feld 2: Das 2. Feld zeigt den Schauplatz-Grundriß. Innerhalb dieses Feldes werden Kamerabewegungsprozesse mit den oben (s.S. 20) aufgelisteten Kamerasymbolen wiedergegeben. Die 3*3-Teilung des Feldes ermöglicht die Darstellung von Kamera-Objekt-Entfernungen mit resultierender Einstellungsgröße bezogen auf das Normalobjektiv; anders: da die Einstellungsgröße vordefiniert auf das Normalobjektiv bezogen ist, gelten sie auch als Kamera-Objekt-Entfernungsangaben: vgl. Feld 2: Ka.1 = Makro-, Detail- und Großaufnahme; Ka.2 = Nah-; Ka.3 = Halbnah-; Ka.4 = Halbtotal-; Ka.5 = Total- und Supertotalaufnahme, d.h. die am unteren Rand des Bildkompositionsfeldes notierten Einstellungsgrößen erfahren ihre Umsetzung in der Distanznotation im 2.Feld. Trifft das nicht zu, ist z.B. die Einstellungsgröße ´Nah-´ unterm 1.Feld notiert, gleichzeitig im 2. Feld jedoch Totale im 3*3 Feldraster angegeben, gelten folgende Bedingungen: Beide Angaben sollen ausgeführt werden, d.h. um bei einer hohen Kamera-Objektentfernung (gleich Supertotal-) die Einstellungsgröße z.B. Nah- zu erzeugen, wird ein starkes Tele benötigt; anders: die Kameraobjektivwahl ermöglicht die Angleichung von Distanz- und Einstellungsgrößenangaben, sollten diese innerhalb einer Einstellung variieren.

Feld 3: Das 3.Feld zeigt den Schauplatz-Aufriß. Innerhalb dieses Feldes werden Kamerabewegungsprozesse mit den oben aufgelisteten Kamerasymbolen wiedergegeben. Auch hier gelten die für Feld 2 gemachten Angaben über Einstellungsgröße und Kamera-Objektentfernung, allerdings nur für die horizontale (hier Spielebene genannte) Fläche, d.h. nur für die unteren drei Quadrate des Aufrißfeldes. Der Grund dafür liegt in der stets variabel benötigten Kamerahöhe über dem Objekt, die von Szene zu Szene sehr verschieden ist (z.B. sind bei Außenaufnahmen viel größere Kamerahöhen über dem Objekt möglich als bei Innenaufnahmen, trotzdem soll die 3*3 Rasterung des Aufrißfeldes für beide Szenemöglichkeiten (innen-aussen) gelten). Die absolute Kamerahöhe über dem Objekt wird (3*3-gerastert) stets pro Schauplatz neu definiert!
Allgemein: Objekte werden durch schwarze Punkte, Objektbewegung und Richtung mit den aus Feld 1 bekannten Dreiecken, bei geringerer Objektbewegung auch mit Zusatzpfeilen (z.B. die veränderliche Körperhaltung einer Person betreffend) dargestellt. Ist ein Objektsymbol durch ein Dreieck eingeschlossen, bewegt sich das Objekt in die Raumtiefe.

Bildkomposition/Filmtechnikprozeß:

Ergebnis: Dreidimensionaler Kameraprozeß an einem sich konstant bewegenden Objekt. Die innerhalb des Bildkompositionsfeldes erkennbare Richtungsänderung des Vektors/Objekts erweist sich bei Betrachtung des Grundriß- bzw. Aufrißfeldes als nur auf der Leinwand erscheinend virtuell, d.h. die Kameraposition verändert sich in bezug auf das Objekt so, daß die im Bildkompositionsfeld notierte Richtungsänderung eintreten muß, vorausgesetzt, das Objekt bewegt sich konstant in eine Richtung. Einen solchen dreidimensionalen Kameraprozeß rein verbal zu beschreiben, überstiege bei weitem die Möglichkeiten eines herkömmlichen Drehbuchs. Diese Notation bietet die Möglichkeit komplexe Kamera- und Objektbewegungsprozesse sowohl innerhalb eines ´normalen´ Drehbuchs als auch innerhalb einer vollständig ausgeführten Filmpartitur zu beschreiben. Die Möglichkeiten der Filmnotation erweitern sich erheblich, wenn mehrere solcher Systeme pro Partiturseite erscheinen, d.h. wird pro Schauplatz, Szene oder Einstellung ein System verwendet, kann die Filmpartitur im Sinne der durchbrochenen Technik gelesen werden, d.h. die so entstehenden Filmabschnitte können als Korrelat zum Takt verstanden und mit ähnlicher Funktion kompositorisch benutzt werden.

Partiturseite:

Bewertung:
- Anhand der oben abgebildeten Mensurleiste und des angegebenen Metrums lassen sich bei detaillierterer rhythmischer Schreib-weise (jede aus der musikalischen Rhythmusnotation bekannte Schreibweise läßt sich in die Mensurleiste eintragen und damit auf die zeitgleich erklingende Musik und die drei Bildfelder (Bildkompositions- Grundriß- und Aufrißfeld) beziehen) exakte Bild-Ton Beziehungen herstellen.
- Durch die Notation in mehreren Systemen (´Stimmen´) kommt die Notation dem Montageprinzip des Films auch graphisch entgegen. Darüberhinaus kann nun musikanalog über einen mehr-´stimmig´ kontrapunktischen Filmsatz nachgedacht werden.
- Die eindeutige Führung des Auges durch die Systemblöcke ermöglicht echtes ´in-time´ Lesen der Partitur, das die konkrete Bildvorstellung bei Ablauf des Films vor dem ´inneren´ Auge erleichtert.
- Da sowohl die Zeit- wie auch die Raumproblematik in die Notation einfließen, kann nahezu jede filmische Vorstellung des Regisseurs/Kameramanns/Autors etc. präzise, wenn auch vom Realen abstrahierend, graphisch fixiert werden.
- Aufgrund der vom gleichen Denkansatz ausgehenden syntaktisch-grammatikalischen Nähe zwischen musikalischer und filmischer Komposition bietet sich diese Notation für synästhetische Versuche an.
- Die Variabilität der Notation und der oben beschriebenen intermediellen Übertragungsmodelle ermöglicht einen systematischen kompositorischen Zugang zu jeder Form individueller synästhetischer Vorstellungen.