IUNO
für Orchester (1994)

I Es geschah also in der Phantasie Vergils, und zwar einzig Vergils, daß die Vorstellung Arkadiens, wie wir sie kennen, geboren wurde, daß eine unwirtliche und kalte Region Griechenlands sich in ein imaginäres Reich vollkommener Seligkeit verwandelte. Doch kaum war dieses neue, utopische Arkadien ins Dasein getreten, als man auch schon eine Diskrepanz zwischen der übernatürlichen Vollkommenheit einer imaginären Umwelt und den Beschränktheiten des menschlichen Lebens empfand, wie es nun einmal ist. (...)
In Vergils idealem Arkadien bewirken menschliches Leiden und eine übermenschlich vollkommene Umwelt eine Dissonanz. Diese Dissonanz, sowie man sie einmal empfunden hatte, mußte aufgelöst werden und wurde in jener abendlichen Mischung aus Trauer und Ruhe aufgelöst, die vielleicht Vergils persönlichster Beitrag zur Dichtung ist. Mit nur geringfügiger Übertreibung könnte man sagen, daß er den Abend ´entdeckte´. (...)
Am Ende von Vergils EKLOGEN spüren wir, wie sich der Abend still über die Welt senkt: Majoresque cadunt altis de montibus umbrae (und länger fallen die Schatten von den Bergeshöh´n).
(aus: Et In Arcadia Ego. Poussin und die Tradition des Elegischen von Erwin Panofsky)

II Daß die Natur in ihrem ursprünglichen, vollkommenen Zustand ein Garten war: diese biblische Vorstellung wurde nun die heidnische, sie durchzog einen elysischen Traum. Selbst die Einöde, der scheinbar äußerste Gegenpol zur Mensch- und Pflanzenwelt, wurde so in Rousseauissmus einbezogen, wenn auch erst auf dem Umweg der Romantik. ´Der Garten,´ sagt derart Friedrich Schlegel, ´in diesem symbolisch-künstlerischen Sinn ist schon ein erhöhter, schön gewordener und verklärter Zustand; in der Einöde aber ist es die wirkliche Natur selbst, deren Gefühl (uns) mit jener tiefen Trauer erfüllt, die zugleich ein so wunderbar Anziehendes hat.´ Allmählich hatten auch Wüsten und Eisgebirge darin Platz. Sie waren mit Unheimlichkeit versehen, sie lagen an den Rändern, wo Natur zum alten Chaos abfällt, doch auch, wo sie sich über die bewohnten Grenzen ins einsam Erhabene erstreckt. Der englische Garten als architektonisches Gebilde konnte dergleichen selbstverständlich nicht mehr andeuten, aber seine Anlage liebte solche Verdämmerungen oder Abbrüche der Gewohnheiten, er baute noch die Kuriositäten, die er vom Barock übernahm, in Einsamkeit, Entlegenheit.(...)

Unter all den Baumasken, mit denen solche Gärten versehen waren, fehlte ständig eine einzige, die der Kirche. Statt dessen eben sollte Arkadien versinnlicht oder versinnbildlicht sein: im Barockgarten ein Arkadien mit Kuriosität, im englischen Garten eines mit Zephyr, Mondsichel und Nocturno. (aus: Das Prinzip Hoffnung, Ernst Bloch)
Partitur-Ausschnitt aus: IUNO, Takt 53

III Im Sommer 1994 bereiste ich für 5 Wochen Italien - Brixen (Südtirol), Rom, Urbino (Marken) mit der nahegelegenen Adriaküste und Imperia (Ligurien). Die vorausgegangene Beschäftigung mit Panofskys zitiertem Aufsatz, die ´Wiederentdeckung´ der Blochschen Passagen aus dem Prinzip Hoffnung und die Eindrücke der Italienreise waren der äußere Anlaß IUNO zu komponieren. Die dem Bild von Arkadien innewohnenden Widersprüche und das traurige Bewußtsein seiner vollkommenen Immaterialität veränderten den musikalischen Verlauf des Stücks während des Kompositionsprozesses entscheidend. Das vielfältig beschriebene Bild Arkadiens diente als Folie und Tagtraum; die diesem entsprechenden musikalischen Objekte und Passagen erklingen flüchtig. Das Andere, das in IUNO zu hören ist, entzieht sich der (vergeblich) herbeigesehnten Vorstellung einer intakten und realen Welt.

B E S E T Z U N G: 3 (3. auch Pic), 3, 3 (3. auch Bass-), 3 (3. auch Contra-); 4, 3, 3, 1, 1Hrf, 6 Schlagz., 12,10,8,8,5 (mindestens)