Immer mehr | Reklame

 

Vortrag im Rahmen von Konzerten mit dem Ensemble Phorminx:
07 12 2003, Hessisches Staatsarchiv, Darmstadt
08 12 2003, Sudhaus, Tübingen


Die Thematik "Blasphemie" birgt für den Komponisten einige Schwierigkeiten. Überspitzt gesagt könnte man sogar behaupten Blasphemie wäre keine spezielle Thematik der Musik.
Wenn Blasphemie als Verletzung von Konventionen im Spannungsfeld sakraler und profaner Werte oder allgemeiner als Umkehrung bestehender und damit bekannter Werte definiert wird, dann beschäftigt sich jedwede künstlerische Arbeit auf die eine oder andere Weise mit diesem Komplex. Die Auseinandersetzung mit einem Material, dessen Bewertung und Deutung sind immanente Anteile eines Schaffensprozesses.

Darüber hinaus hat das Brechen von Konventionen in der heutigen Zeit insofern seine gesellschafltiche Bedeutung verloren, als es zum persönlichen Standard erhoben wird. Als subjektiver Ausdruck verliert es natürlich seine gesellschaftliche Wirkung, da es nicht mehr als Abkehr von Normen wahrgenommen werden kann. In der dezidierten Form eines Themas könnte das so komponierte Werke sogar Gefahr laufen, in plakativer Provokation dem Vorwurf künstlerischer Ohnmacht ausgesetzt zu sein oder im besten Falle noch als nostaligsche Reminiszenz an die "guten alten Zeiten" wahrgenommen werden, in denen Kunst noch gesellschaftlich wirkte.

Das Stück "Immer mehr | Reklame" setzt sich aus zwei Gedichtvertonungen zusammen, die formal strikt voneinander getrennt sind, indem sie mit nur einem minimalen Übergang aufeinander folgen. Demzufolge lassen sich beide Teile auch unabhängig voneinander aufführen. Die Idee dabei ist, als Brechung einer bekannten formalen Struktur, zwei in der Art gegensätzliche Stücke als ein sukzessives Diptichon in Wechselwirkung treten zu lassen. In diesen zwei sehr unterschiedlichen musikalischen Abschnitten reflektiert und kritisiert das Stück die Verschiebung moralisch ethischer Grundsätze in einer Welt, in der Sexualität und Identität verwechselt werden und der Konsum unsere Fragen nach dem Tod beantwortet.

Renate Rasp
Immer mehr

Küß mich
mit deinem 
Mund und
stopf dir
dein Loch 
in das Loch
schling 
dich selber runter
saug dich
in dich hinein
daß du ganz 
zu bist
weg
ein Klumpen
mit einer …ffnung
friß dich
scheiß aus
friß daß
du platzt
und nichts 
Übrig lassen
um an die 
Wand zu klatschen
oder 
sonst was.
Das Gedicht "Immer mehr" von Renate Rasp beschreibt auf drastische Weise den gewollten Identitätsverlust in der Symbiose einer grenzenlosen Sexualität. Die Klangcollage dieses Teils ist eine zeitlich maßstabsgetreue Abbildung des Boleros von Maurice Ravel im Verhältnis 1:2,5. Dabei wurden die Instrumente des Orchesters durch die Klangspur von Erotikclips aus dem Internet ersetzt.
Die Idee zur Verwendung des Boleros stammt von einer zugegebenermaßen schlechten Hollywoodkomödie aus dem Jahre 1979. In "10 - Die Traumfrau" mit Bo Derek und Dudley Moore hat die Angebetete die eigenartige Angewohnheit, den Sexakt nur mit der musikalischen Begleitung des Ravelstücks auszuführen. Die Absatzzahlen der Platten dieses Stücks stiegen unmittelbar nach der Erstausstahlung im Deutschen Fernsehen sprunghaft an. Die orgiastische Konotation dieses einzigartigen Instrumentationscrescendos hat mich dazu bewogen, es zum formalen Ausgangspunkt des ersten Teils zu machen.
Mit den Worten des Gedichts übernimmt dabei der Sopran quasi eine Stimme innerhalb der gesamten Entwicklung. Kompositorische Idee war, den Text in erotische Expression zu transformieren ohne ihn zu dekonstruieren. Das heisst, das der Text chronologisch vertont wurde. Lediglich Wiederholungen wurden im Sinne einer Insistenz hinzugefügt. Die minderwertige Qualität der Internetklänge soll dazu führen, das der menschliche Ausdruck der Stimme im besonderen Maße als einsam wahrgenommen wird.

Ingeborg Bachmann 
Reklame 
 
Wohin aber gehen wir 
ohne sorge sein ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird 
sei ohne sorge
aber  
mit musik
was sollen wir tun 
heiter und mit musik
und denken 
heiter
angesichts eines Endes 
mit musik
und wohin tragen wir 
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre 
in die traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht 
am besten
wenn Totenstille
 
eintritt
Das zweite Gedicht "Reklame" von Ingeborg Bachmann ist eines der eindrücklichsten Beispiele lyrischer Montagetechnik, bei der Elemente aus verschiedenen Sprach- und Inhaltsebenen ineinander verschoben werden. Ein Text existenzieller Fragen wird dabei mit den heiteren und oberflächlichen Slogans der Werbewelt alterniert. Die Komposition übernimmt das sprachliche Mittel des Dialogs und verarbeitet chronologisch dessen 24 unterscheidbare Textabschnitte und Wörter in 48 musikalischen Formteilen. Dafür verwendet es eine Skala, die aus 48 Tonhöhen besteht, wobei jede Oktavlage einer Tonhöhe eine andere Umgebung benachbarter Töne hat (Erklärung). Diese kompositorischen Mittel sind nicht als Selbstzweck gedacht, sondern dienen der Disziplin des Arbeitens und der Setzung von Grenzen innerhalb eines virtuellen Raums unendlicher Möglichkeiten musikalischer Gestaltung. Dabei verwendet die Komposition eine Technik instrumentaler Granulierung, bei der ein flächiger Klang aus der Vielzahl kurzer Dauern zusammengesetzt wird. Die Individualität des Einzelereignisses wird in einem Gesamtklang aufgelöst und stellt somit einen musikalischen Kommentar zum Inhalt der Gedichte dar. Der Mensch verliert seine Identität in der Vielzahl seiner gesellschaftlichen Zwänge und Abhängigkeiten.
Musikalisch erkennbar wird dies auch in der nahezu vollkommenen Auflösung der Stimme im Gesamtklang des Ensembles. Trotzdem gibt es immer wieder Momente, in denen sich ein Instrument solistisch herauslöst bevor es wieder vom Ensemble assimiliert wird.