Hirni

 

Vortrag zur Ausstellungseroeffnung von Jens Koethner Kaul
08 02 1992, Foyer der Neuen Aula, Folkwang Hochschule, Essen



Skulptur "HIRNI"


Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Rektoren, liebe Gombitza Sisters.

Ich freue mich, daß sie erschienen sind und möchte, bevor sie sich auf die Bar stürzen um mit Bekannten und Unbekannten diverse Getränke zu sich zu nehmen, ihre Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Gegenstände richten, die sich hier im Raum befinden und unmißverständlich als Skulptur ausgewiesen sind.

Hirni ist eine Skulptur der Gombitza Sisters, die sich 1992 zusammenfanden, um den Fluten kultureller Information zu entgehen, in denen der Einzelne, letztlich ausweglos , verzweifelt kämpft um eine nächsthöhere Position der Macht, eine, die ihm die Rückenfreiheit verschafft, der eigenen Perspektivlosigkeit nicht ins Auge blicken zu müssen.
Dieser Zusammenschluß soll in der Hauptsache dazu dienen, in der Wechselwirksamkeit mehrerer Disziplinen, Perspektiven als Angebote zu formulieren und im Austauch von Informationen, Anregungen und Reflektionen zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu kommen. Weiterhin soll durch die Verschiedenartigkeit der angesprochenen Interessengruppen einer sich selbst ghettoisierenden Kunst vorgebeugt werden, indem sich in den Aufführungen verschiedene Disziplinen projektbezogen miteinander verbinden, die da sein können:
Architektur, Bühne ( Tanz ), Film/ Neue Medien, Musik. Ökologie, Philosophie und Sprache ( Literatur ) Deren Zusammenspiel scheint den Gombitza Sisters Ausweg und Orientierung und führte auch zu meinem Auftreten hier, daß zeigt, wohin unverhohlene Unkenntnis gepaart mit ein wenig kultivierter Ignoranz und steigendem Interesse an einem fremden Medium führen können. Aus diesen Gründen liegt auch die geistige Nähe zu der Idee der Folkwangschule nahe, die in ihren geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen immer wieder den Anspruch auf Austausch und Zusammenwirken fordert und fördert und sich damit für uns als einen adäquaten Ausstellungsraum prädestiniert .

Das Hirn hat in der Beurteilung der menschlichen Organe seit jeher einen zentralen Platz eingenommen. Seine Bedeutung im Lösen und Schaffen cognitiver Problemstellungen ist weitgehend bekannt und wird aus diesem Grund speziell in Fachkreisen noch immer heftig diskutiert. Die These, der Mensch käme auch ohne Gehirn aus schien aus der Welt geschafft, erfreut sich jedoch in jüngerer Zeit in der praktischen Umsetzung wieder einer wachsenden Schar von Anhängern. Der Tatsache, daß Gehirn, Mark und periphere Nerven morphologisch und physiologisch ein einheitliches Ganzes bilden, scheint dabei keine Berücksichtigung zuzukommen. Die Bedeutung von 'kopflos' ist dann nicht das fehlerhafte oder nicht vorhandene Funktionieren dieses Apparats, sondern eine bewußte Reduktion auf rückenmarkgesteuerte Entscheidungsprozesse.
Das Gehirn aber ist ein Instrument der Interaktion, dessen Funktionalität sich nicht erklärt aus der Quantität oder Qualität der Baustoffe, da hier die gleichen verwendet werden wie auch für den übrigen Körper, sondern aus der hohen Anzahl ihrer Kombinationen zu dem Zweck unterschiedlichster Verwendung und deren sinnvolles, assoziatives Zusammenwirken mit dem Ziel, Begriffe zu schaffen. Es zeigt den scheinbar unendlichen Reichtum von Möglichkeiten und gleichzeitig die Unmöglichkeit diesen Reichtum zu verstehen, geschweige denn seinen Zugriff zu steuern.
Der Masse scheint dabei also keine Relevanz zuzukommen, sonst wären die Kommunikationsprobleme mit einigen Lebewesen, die wir als Tiere deklarieren, wahrscheinlich auf deren Desinteresse zurückzuführen, eine Vorstellung, bei deren Betrachtung wir uns eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren können. Träte doch darüberhinaus, die unlösbare Frage: Was hat die Kartoffel, was ich nicht habe? schon bei der Anzahl noch grundlegender Infomationseinheiten, den Chromosomen auf. Daß der dümmste Bauer die dicksten Kartoffeln erntet ist demzufolge nicht die Frucht eines glücklichen Umstands, sondern ein einfaches Sich-Finden zweier wesensverwandter Arten. Auch müßte dann, wenn es nach der Zahl der Chromosomen ginge, gewisse Farnarten längst die Weltherrschaft übernommen haben. Solange wir aber in der Vorstellung leben, daß dem nicht so ist, scheint es einen Grund zu geben scheint für die Notwendigkeit, daß Menschen versuchen mit Menschen zu kommunizieren. Und doch bleibt deren Sinnfälligkeit fragwürdig.

Vom Standpunkt vergleichender Anatomie erklärt sich das vorliegende Objekt folgendermaßen: In der linken Hälfte des Raumes befindet sich das Gehirn ( encephalon ) mit seinen zwei Hemisphären bestehend von oben nach unten aus dem Großhirn ( cerebrum ), von dem wir das Endhirn ( telencephalon ) betrachten können, das Zwischenhirn sowie auch das Mittelhirn sich jedoch unserem Einblick entzieht. Es folgt das Rautenhirn bestehend aus Kleinhirn ( cerebellum ) und dem Nachhirn , der medulla oblogata, dem sogenannten verlängerten Mark. Somit erkennen wir den im rechten Raumteil untergebrachten Objektteil als das Rückenmark und den Raum selbst als die peripheren Nerven.
"Daß sie also auf den Nerven gehen, muß ich an dieser Stelle nicht vertiefen. "
Das Gehirn hat keinen Balken zwischen den Hemisphären, was darauf schließen läßt, daß der Besitzer, ob Links- oder Rechtshänder Bewegungs-störungen des jeweils gegenüberliegenden Armes hat. Jeder unter Ihnen, der aufgrund psychologischer Umstände in den Genuß einer Medikamentierung gekommen ist, die beide Gehirnhälften voneinander trennt, kennt die Problematik, die dazu führt, daß das Zähneputzen auch schon mal zwei Stunden dauern kann, weil das Gesicht nicht gefunden werden konnte.
Auf das Metallschild über dem Gehirnteil in der Interpretation des Über-Ichs werde ich später nur kurz eingehen, da der Bereich der Psychoanalyse in meiner Betrachtung nur untergeordneten Stellenwert besitzt.

Wenn wir die Gehirne der Wirbeltiere vergleichen, so stellen wir fest, daß die basalen Teile zwar gewisse Abwandlungen zeigen, in ihrem grundsätzlichen Aufbau aber wiederkehren. Es sind jene Abschnitte, von denen die Hirnnerven ausgehen, die die Sinneseindrücke aus der Peripherie aufnehmen und Impulse an sie abgeben. Diese Teile sind vom Fisch bis zum Menschen grundsätzlich gleich und werden als Urhirn ( paleencephalon ) bezeichnet. Die Abwandlungen am Urhirn sind der Ausdruck einer bestimmten evolutorisch gewachsenen Leistung. Da die Art der Fortbewegung sich in der Größe und Ausbildung des Kleinhirns darstellt, läßt dies die These zu, daß es sich bei dem vorliegenden Objekt um ein menschliches Gehirn handelt. Eine Spezies mit dieser Ausbildung des Kleinhirns ist durchaus in der Lage, sich durch Kriechen und Hüpfen fortzubewegen, ist jedoch von der Beherrschung des dreidimensionalen Raumes, sprich dem Schwimmen ( nicht dem Überwasserhalten ) und noch mehr dem Fliegen evolutorisch weit entfernt. Hierbei befindet er sich aber in der Gesellschaft anderer interessanter Wirbeltierarten wie z.B. dem Frosch und dem Kaninchen.

Wenden wir unsere Aufmerksamkeit zunächst dem verlängertem Mark und dem Rückenmark zu. Schon die Materialkonzeption , die Verwendung elementarerer Baustoffe läßt erkennen, daß es sich hierbei um Organabschnitte mit grundsätzlicheren, erhaltenden Funktionen handelt, die die differenzierten Funktionen an nachfolgende Hirnteile weiterleiten. Durchschneidungsversuche, klinische Betrachtungen und das sogenannte Gampersche Mittelhirnwesen ( eine menschliche Mißbildung, der alle Hirnteile rostral vom Mittelhirn nahezu Fehlen ) haben bewiesen, daß das verlängerte Mark und das Mittelhirn Einrichtungen besitzen, die für die Erhaltung des Lebens einerseits notwendig sind, aber andererseits auch genügen. Wenn wir anhand des vorliegenden Objektes versuchen uns diesen Zustand vorzustellen, bemerken sie, daß es nur noch sehr begrenzt in der Lage wäre, eine produktive Aussage zu formulieren. Dieses Phänomen, mit der Folge einer vollkommen reduzierten Lebensweise aufgrund fehlenden Großhirns ist als Blockhead-Syndrom bekannt geworden.

Im Kleinhirn treffen Meldungen der Peripherie über Haltung des Körpers und Lage des Körpers im Raum zusammen. Es faßt die zahlreichen Einzelmeldungen zu einem einheiltlichen Gesamtbild der Lage zusammen. Dieses vergleicht es mit den Befehlen der Großhirnrinde und den extrapyramidalen Systemen des Rückenmarks und greift hemmend, korrigierend oder fördernd in das motorische System ein. Angeborener Kleinhirnmangel und langsam sich entwickelte Schäden werden kaum bemerkt, weil Aufgaben des Kleinhirns dann von anderen Zentren übernommen werden, was sich an unserem Objekt der Betrachtung sehr gut erkennen läßt.

Das Großhirn verdeckt mit seiner Masse die evolutorisch älteren Gehirnabschnitte. Seine Rindenfelder sind in verschiedene Zentren,foci unterteilt. Die auch an diesem Gehirn ersichtlichen Experimente, durch Abtragung, Durchschneidung, Vergiftung und Abkühlung dieser Rindenfelder deren unterschiedliche Funktionen zu erklären, führen keineswegs zu eindeutigen Forschungsergebnissen, vielmehr erweitern sie die Möglichkeiten unterschiedlichster Auffassungen. Die Interpretation wird hier zur Notwendigkeit, wenn man bedenkt, daß mit den Möglichkeiten des Gehirns die Möglichkeiten des Gehirns erklärt werden sollen. Die heute verbreitetste Auffassung geht dahin, daß sensible und sensorische Erregungen ( Tast-, Seh-, Hör-, Riech-, und Geschmackseindrücke in bestimmte Rindenbezirke projiziert werden und in anderen, meistenteils angrenzenden, als Erinnerungsbilder ( Engramme ) verankert werden. Jegliche Form der Erinnerung , auch Klänge werden als Bild gespeichert, wobei in diesem speziellen Fall unterschieden wird in Klangerinnerungsbilder und Wortklangbilder. Unsere Erinnerung an Beethovens Fünfte oder Heinos "Wenn beim Alpenblühn wir uns wiedersehn" ist nicht als eine Sammlung eingefangener Frequenzen zu verstehen, die in unseren Nervenbahnen umherirren, sondern als eine Verkettung von Proteinen zu weißer und grauer Substanz, die diese Erinnerung als einfaches binäres Bild neurophysiologischer Ja/Nein- Zustände abbildet. Von diesem Standpunkt aus gibt es also keine erkennbaren Qualitätsunterschiede zwischen Beethoven und Heino. Erst durch die assoziativen Möglichkeiten eines Bildes in Kombination mit anderen Bildeinheiten zeigt sich seine individuelle Bedeutung in der praktischen Anwendung. Auch das vorliegende Gehirn zeigt sich uns nur in einem Zustand aller seiner möglichen Zustände und gibt uns Einblicke in einen Moment seiner Erinnerung, wobei bei näherem Hinsehen erkennbar ist, daß es sich in diesem Zustand weder an Beethoven noch an Heino erinnert.Schon für einfache bewußte Handlungen, ist die Zusammenarbeit mehrerer Rindenbezirke, für die höheren, psychischen Leistungen das Zusammenspiel der gesamten Rinde erforderlich. Dazu gehört auch der Vorgang des Lernens, den ich als eine chronologische Sammlung von Erinnerungen in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Rindenarealen am Beispiel der Sprache erörtern möchte:
Das Kind gibt zunächst nur unverständliche Laute von sich. Darauf lernt es nachzusprechen, d.h. mittels des Brocaschen Sprachzentrums Bewegungskombinationen aller beim Sprechen benötigten Muskeln auszuführen. Gleichzeitig lernt es manches zu verstehen, was es als sogenanntes Wortklangbild in der vorderen Schläfenregion der Großhirnrinde abspeichert. Durch die Kombination zwischen beiden Zentren lernt es allmählich von sich aus zu sprechen, sprich Wortklangbilder nachzuahmen. In einem weiteren Stadium lernt es die Worterinnerungsbilder mit den optischen Tasterinnerungsbildern, Personen und Gegenständen zu einem Begriff zu verbinden. Gleichzeitig werden Assoziationsbahnen zwischen den sensiblen, optischen und akustischen Zentren in Betrieb genommen. Die Worte erhalten einen Sinn und werden zum Begriff. Das Sprechen wird zur Sprache. Jede Form von Lernen ist zunächst mechanisch und wird später erst unter Einschaltung des Begriffszentrums mit Verständnis ausgeführt. Je zahlreicher die verschiedenen Erinnerungsbilder, je mannigfaltiger ihre Verknüpfungen untereinander und je zahlreicher und sicherer die Begriffe, um so abwechslungsreicher wird die Sprache. Die Sprache der Eskimos z.B. zeigt sich in dieser Betrachtung als die am weitesten entwickelte. Einzelne phonetische Laute werden im Moment der Kommunikation unter Berücksichtigung der Situation und der gewollten Aussage zu Worten zusammengestellt. Ihr absolutes Fehlen von Abstraktion macht sie zum universellen Ausdrucksmittel des Moments. Dieses erklärt nicht nur warum die Konjugation eines einzigen Verbs bändefüllend ist oder das Vorhandensein von Hunderten von Worten für den Begriff Schnee, sondern auch die totale Abwesenheit von Poesie, da alles in dieser Sprache Poesie ist.
Das gesteigerte Bedürfnis zum Dichten und Denken innerhalb des deutschen Sprachraums erklärt sich dann als eine Reaktion auf den hohen Abstraktionsgrad seiner Sprache. Einerseits postuliert es objektive Wahrheiten über das Leben, andererseits sucht es durch Objektivierung das individuelle Erleben zu überhöhen. Betrachten sie also das vorliegende Gehirn getrost als ein zumindest europäisches.

Bleibt noch das Über-Ich. Durch die normierte Gestaltung nimmt das Gehirn Bezug auf den moralisch, gesellschaftlichen Aspekt seiner Identität. Seine Entscheidung, sich selbst nur als sich selbst zu sehen stellt sich als eine determinierte Reaktion auf seine unmittelbare Umgebung dar. Fragen über seine Möglichkeit, über bestehende Realitäten konstruktive Aussagen zu treffen entlassen uns in den Bereich der Spekulation.

An dieser Stelle möchte ich sie bitten das Hirn nicht zu berühren, da Reizung der motorischen Zentren zu Krämpfen bishin zu Muskellähmungen der hemisphärischen Gegenseite führen können. Darüber hinaus führen Zerstörungen der Rindenfelder zu Agnosien, zur Unfähigkeit die Bedeutung von Schriftzeichen wiederzuerkennen oder sogar zur sogenannten Seelentaubheit, der Unfähigkeit Worte, Töne und Geräusche zu verstehen.

So möchte ich schließen mit einem Zitat aus einem der Liedtexte von Juliane Werding, die gerade für unsere Generation Identifikation und Auseinandersetzung bedeuteten, ein Zitat, das trotz seiner hohen alliterativen Komplexität im Sprachumgang den Blick auf seine tiefe Weisheit nicht verstellt, wenn es da heißt: " Wenn Du denkst, Du denkst, dann denkst Du nur Du denkst."

Ich bedanke mich für Ihr Interesse und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.