Die Ganztonleiter als Wendepunkt zur Atonalität

 

Hausarbeit zum musikwissenschaftlichen Seminar "Jenseits der Tonalität"
bei Prof. Dr. Horst Weber


Gliederung

1. Einleitung

2. Alban Berg, Schlafend trägt man mich in mein Heimatland op. 2, Nr. 2

3. Arnold Schönberg, Kammersymphonie op. 9

4. Anton Webern, Entflieht auf leichten Kähnen, op. 2

5. Schlußbemerkung


1. Einleitung Die Entwicklung von der Tonalität zur Atonalität bis hin zur Zwölftontechnik vollzog sich nicht als Bruch, sondern vielmehr als behutsame Herauslösung aus der Tradition durch Umdeutung ihrer gestalterischen Elemente. Die musikalische Logik dieser Veränderungen ist nicht im wissenschaftlichen Sinne beweisbar, doch ist sie als Folgerichtigkeit exemplarisch nachvollziehbar. Spricht Schönberg zwar erst bei der Zwölftontechnik von einer „sichtbaren Logik“, die die intuitive ergänzt, sind aus der heutigen Perspektive schon in früheren Entwicklungsschritten Elemente wie die Ganztonleiter als logischer Strukturgeber zur Emanzipation von der Tonalität sichtbar. Folgende Eigenschaften der Ganztonleiter machten es möglich, durch ihre Verwendung tonale Strukturen soweit aufzubrechen, daß Atonalität entstehen konnte: - Durch ihre äquidistante Struktur gibt es keine immanenten Leittöne, die eine tonale Schwerpunktbildung zur Folge hätten. Äquidistante Klänge bzw. Skalen sind solche mit gleichem Tonabstand. Symmetrische Klänge bzw. Skalen sind solche, die um eine reale oder auch virtuelle, horizontale Tonachse spiegelbar sind. Daraus folgt, daß symmetrische Klänge/Skalen immer äquidistant zu einer Tonachse sind und äquidistante Klänge/Skalen immer auch symmetrisch sind (real oder virtuell). Klänge/Skalen mit ungerader Tonanzahl haben eine reale, die mit gerader Tonanzahl eine virtuelle Achse. abb - Durch die Verwendung eines durch die Ganztonleiter bedingten, reduzierten Intervallvorrats wird der Intervallklang (Zweiklang) gegenüber dem Akkordklang (Dreiklang) aufgewertet und verlagert harmonisches (tonal vertikales) Denken hin zum melodischen (intervallisch horizontalen) Denken. Die direkte Beziehung nur zweier Töne gerät in den Vordergrund. - Die Verschränkung beider Modi der Ganztonreihe öffnet die Tendenz zum chromatischen Total, d.h. der völligen Gleichbedeutung aller Töne innerhalb der Oktave, die in letzter Konsequenz in die dodekaphonischen Techniken mündete. - Die Ganztonleiter ist hörpsychologisch, wenn von der Obertonreihe ausgegangen wird, das folgerichtige Bindeglied zwischen Tonalität und Atonalität auf dem Weg zur Zwölftönigkeit bis hin zur Vierteltonharmonik heutiger Zeit. Folgende Darstellung zeigt dieses durch eine gewollte Simplifizierung musikhistorischer Sachverhalte: abb Die folgenden Analysen dreier Werke zeigen exemplarisch die unterschiedlichen Ansätze in der kompositorischen Verwendung der Ganztonleiter in Bezug auf die soeben aufgeführten Voraussetzungen. 2. Alban Berg, Schlafend trägt man mich in mein Heimatland op.2, Nr.2 Zunächst soll das Lied „Schlafend trägt man mich in mein Heimatland“ op.2, Nr.2 von Alban Berg aus dem Jahre 1909 untersucht werden. Douglas Jarman schreibt dazu: In the earliest of Berg's published works (the Seven Early Songs, the Piano Sonata op. 1 and the Four Songs op. 2) a weakening of the sense of tonal direction is achieved mainly through the use of harmonic and melodic formations based on superimposed fourths or the whole-tone scale. The feeling of tonal ambiguity which such formations produce results from the fact that they are built of only interval type. There are, for example, only two whole-tone scales: that beginning on C natural and that beginning on C sharp. Transpositions of either of these two scales produce not new scales but rearrangements of the notes of one of these two six-note hexachords, a process which, as Arnold Whittall has pointed out, is one of 'permutation rather than of transposition'. Since each whole-tone scale consists of a sequence of equal interval steps there is no way of differentiating between the six whole-tone scales that can be derived from the notes of one hexachord; a feeling of priority amongst the notes of the hexachord can only be achieved through stressing one note by registral, dynamic or other compositional means. Whereas the lack of intervallic balance in chords built of, for example, a perfect fourth and a superimposed augmented fourth seems to generate a sense of forward movement, whole-tone formations and those built entirely of superimposed perfect fourths have an intervallic equality which produces a feeling of harmonic stasis or suspended tonal movement.1 Dieses erste der drei Lieder aus „Der Glühende“ (Mombert) zeigt exemplarisch die Verwendung der Ganztonleiter als harmonisches Gerüst einer Komposition. Die Verwendung der zwei Ganztonmodi abb orientiert sich an ihrer vertikalen Gestalt, die wiederum die formale Struktur erkennen läßt. Die formale Struktur ist eng an die drei Verse des Textes gekoppelt. So läßt sich das Lied folgendermaßen gliedern: Teil 1: Takt 1-8, 2. Viertel (T.1-8: 1.Vers) Akkorde von Modus 1 und Modus 2 alternieren ohne vertikale Überschneidungen; Teil II: Takt 8, 3.Viertel - Takt 12 (T.9 - T.13, 2. Viertel: 2. Vers) Verschränkung beider Modi in der vertikalen Ebene; Teil III: Takt 13-18 (T.13, 3. Viertel - T.18: 3. Vers) wie Teil 1 mit Ausnahme des cl auf dem letzten Achtel in Takt 15. Das Stück steht in der Tonart es-moll, jedoch ist vor jeden einzelnen Ton ein Alterations- oder Auflösungszeichen gesetzt, was eigentlich die generelle Vorzeichnung der Tonart überflüssig macht. Schon hierin zeigt sich der Widerspruch zwischen Tonart und der Emanzipation von derselben. Der Schlußakkord, obwohl auf „Es“ stehend, ergibt aufgrund seiner identischen Struktur zu den unmittelbar vorangehenden Akkorden keine Tonartmanifestation. Die harmonische Hauptgestalt ist die „hartverminderte Dominante“, d.h. ein Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quinte (auch in seiner zweiten Umkehrung als „übermäßiger Quartsextakkord“). Durch Tiefalteration der Quinte wird der Dominantseptakkord zum modalen Akkord des einen oder anderen Modus. Durch permanente Aneinanderreihung dieser Akkorde in alternierenden Modi entsteht ein „quasi modulierendes, auflösungswilliges“ Gebilde, welches jedoch durch das Ausbleiben einer solchen Auflösung in seinem Schwebecharakter gehalten wird und sich somit eher klanglich manifestiert als durch die hierarchische Deutung in Bezug auf eine Tonart. Die dadurch entstehende Quartenschichtung in der Baßlinie in Takt 1-4 (b, es, as, des, ges, ces, e) zeigt den Zusammenhang zwischen den zwei äquidistanten Intervallsystemen von Modus 1 und Modus 2 (siehe auch Schönberg, op. 9). Die schnellste rhythmische Bewegung des Stückes ist - in der Summe der Stimmen gesehen - eine gleichmäßige Achtelbewegung, die gleichzeitig auch die höchste Geschwindigkeit im Wechsel der Modi ist. Rhythmik und harmonischer Wechsel stehen in diesem Stück in unmittelbarem Zusammenhang. In den ersten drei Takten erklingen die Akkorde des Klaviers im Wechsel von Halben- und Viertelnoten. In den drei Folgetakten werden Zwischennoten als Achtel so hinzugefügt, daß der rhythmische Fluß sich zwar beschleunigt, der Rhythmus der alternierenden Modi jedoch als Metabewegung im Raster von Halber zur Viertelnote verbleibt. Die Takte 15 und 16 sind eine rhythmisch um die Hälfte gestauchte Form der Akkorde von Takt 1-4. Dynamisch gehorcht das Stück formal einer symmetrischen Bogenform von Crescendo und Decrescendo: abb Die Takte 17 und 18 können in diesem Zusammenhang dynamisch als Ausschwingtakte gelten, was beim Betrachten der nachschwingenden Baßnote als durchaus zulässig erscheint. Gleichzeitig ist der Rhythmus der Baßnote Ausblick auf ähnliche Gestalten in Takt 2-4 und Takt 9-12 von op. 2, Nr. 3 und Takt 4-6 in op. 2, Nr. 4 (siehe Notenbeispiel 4). abb Die Singstimme verdoppelt bis auf einige Ausnahmen Töne des simultanen Akkords in der Klavierstimme. Somit gehorcht auch sie dem vertikalen Diktat im Wechsel der Ganztonmodi. Sukzessive Töne gleichen Modus treten hauptsächlich da auf, wo dieser sich im Klavier nicht ändert. In Takt 9 und Takt 10 verläuft die Singstimme parallel zur dynamisch hervorgehobenen Innenstimme des Klaviers. 3. Arnold Schönberg, Kammersymphonie op. 9 Als zweites Werk soll die 1906 vollendete „Kammersymphonie“ op. 9 von Arnold Schönberg untersucht werden. Hermann Erpf analysiert schon 1927 den Beginn des Werkes folgendermaßen: Diese ersten Takte der Kammersymphonie geben fast das ganze Material zu einer erschöpfenden Theorie der symmetrischen Klänge. Es beginnt ein dreitoniger Septklang, dessen Verwandtschaft mit dem Quartenklang durch Ausfüllung seiner Lücken sich demonstriert, und der zu einem sechstonigen Quartenklang führt (Takt 2). Dieser wird in Takt 3 „alteriert“, ein (von Schönberg in seiner Harmonielehre gebrauchter) Ausdruck, der im Sinn des entwickelten strengen Alterationsbegriffs nicht zulässig ist; ein Funktionsklang behält nach der Alteration seine Funktion und erhält eine bestimmte Zielrichtung, ein symmetrischer dagegen behält nach Veränderung eines oder einiger seiner Töne keine seiner Eigenschaften, ist also nicht mehr „derselbe“ und kann, wie der obige, in seiner Zielrichtung ganz unbestimmt sein. Genau ist also in bezug auf den Vorgang am Beispiel zu sagen: der Quartenklang geht durch Leittonfortschreitung zweier seiner Töne in eine zunächst funktionslose, nicht richtungsbestimmte Fünfklangsform über. Diesem Fünfklang folgt, eingeführt durch eine Reihe von Leittonschritten bei einem liegenden Ton, ein Durdreiklang; von diesem aus versucht das Ohr, eine funktionelle Beziehung zu dem vorausgegangenen Klang herzustellen, wodurch dieser rückwärts eine Deutung als disalterierter (ges-gis) Dominantseptakkord zu dem F-Dur-Dreiklang erfährt.2 abb Unter Vorausgabe von Schönbergs eigener Aussage: „(...) the harmonic idea of the piece is exhibited at once: the fourth-tone row in melodic and harmonic relation to a wholetone scale erkennt man, daß es sich bei diesem Übergang von sechstönigem Quartenakkord in die von Erpf sogenannte „Fünfklangsform“ um die Verbindung und Durchdringung von Quartenakkord und Ganztonleiter handelt, wie Schönberg sie zu diesem Stück in seiner Harmonielehre beschreibt.“3 Schon in der Harmonielehre weist Schönberg darauf hin, daß die gleich zu Beginn exportierten Quarten die gesamte harmonische Konstruktion des Werkes durchdringen; er beschreibt ferner unter Berufung auf Opus 9 die Verbindungsmöglichkeit zwischen sechstönigen Quartenakkorden und sechstönigem Ganztonakkord mittels chromatischer Abwärtsführung je dreier Töne.4 Folgende Abbildung jedoch zeigt, daß hier in den ersten Takten der Kammersymphonie entgegen des von ihm beschriebenen Prinzips nur zwei Töne abwärts geführt werden. Um die Ganztonleiter zu vervollständigen, hätte das „es“ zum „d“ geführt werden müssen, wird aber aufwärts zum „e“ geführt (auch leitereigen). Es entsteht also aus dem sechstönigen Quartenklang kein sechstöniger, sondern ein fünftöniger Ganztonklang mit Verdopplung des „e“. Diese Entscheidung begründet sich in der Verstärkung der Leittöne zum folgenden f-moll-Akkord mit Quartvorhalt und der darauffolgenden Auflösung zum F-Dur-Akkord. abb An dieser Stelle sei bemerkt, daß natürlich die Aufwärtsführung der jeweils drei anderen Töne des Quartensechsklangs genau den anderen Modus der Ganztonleiter ergibt. abb Schon in der Materialdisposition des Anfangs der Kammersymphonie zeigt sich also, daß äquidistante Klänge und Klänge äquidistanter Skalensysteme als Mittel musikalischer Tonhöhengestaltung sich noch dem Primat der Tonalität unterwerfen, da sie an ihr gemessen werden, sie aber gleichzeitig in der Schwebe halten. Beispielhaft für diese Annahme seien die Takte von Studienziffer 74-80 des gleichen Werkes angeführt. Diese Takte am Ende der Durchführung spiegeln deutlich die Gratwanderung zwischen Emanzipation von der Tonalität und gleichzeitiger Bindung an und Definition über dieselbe. Nach einer langen Passage mit Läufen verschiedener Skalen erreicht das Stück an der Studienziffer 74 einen Punkt, an dem nur noch der Modus 1 der Ganztonleiter vorherrscht. Übriggeblieben ist nur noch ein Motiv, welches im gesamten Stück immer wieder auftaucht und hier in den Klarinetten und dann in Violoncello und Kontrabaß über drei Takte ausläuft. An dieser Stelle zeigt sich eine der kompositorischen Grundideen Schönbergs: „Beziehungen zwischen Melodik und Harmonik im Sinne eines Kongruenzverhältnisses sind ein fundamentales Moment Schönbergschen Denkens und Komponierens. Die Akzentuierung der Interdependenz beider Ebenen geht über die geläufige Betonung ihrer Einheit hinaus.“5 Gedankliche Voraussetzung ist hier Schönbergs Vorstellung von „Ton“: Archimedischer Ort von Horizontaler und Vertikaler ist in Schönbergs Denken der 'Ton: „Ist die Skala Nachahmung des Tons in der Horizontalen, im Nacheinander, so sind die Akkorde Nachahmung in der Vertikalen, im Miteinander. Ist die Skala Analyse, so ist der Akkord Synthese des Tons“ (siehe H6 1911 Sachregister, Stichwort Ton). Der ‚Ton’ Schönbergs ("das natürliche Vorbild“) aber ist der Ton als 'Klang', der ‚Ton mit Obertönen': „Intuition und Kombination haben mitgeholfen, die wichtigste Eigenschaft des Tons, seine Obertonreihe, die wir uns wie alles gleichzeitig Klingende, in der Vertikalen gelagert vorstellen, umzudenken ins Horizontale, ins Ungleichzeitige, ins nacheinander Klingende. (...)“.7 Innerhalb dieser Einheit von Melodik und Harmonik, von Linie und Klang nimmt Schönberg die Melodie als das Primäre wahr: ... the accompanying harmony came to my mind in a quasi melodic manner from horizontal projections of tonal relations. A chord results similarly from projections in the vertical direction ... The main difference between harmony and melodic line is that harmony requires faster analysis, because the tones appear simultaneously, while in a melodic line more time is granted to synthesis, because the tones appears (sic!, H.W.) successively, thus becoming more readily graspable by the intellect.8 Bezogen auf die Verwendung der Ganztonleiter in der Kammersymphonie läßt sich feststellen: Alle Spielformen der Ganztonleiter sind als auf- oder absteigende Linie innerhalb der einzelnen Instrumente formuliert, welche gleich mit einer späteren harmonischen Gestalt konzipiert wurde. Die Harmonik ergibt sich, indem das Horizontale der Melodie bzw. Skala in die Vertikale kippt und über den Oktavraum der einzelnen Orchesterinstrumente gespreizt wird. Konkret heißt dies: Von Takt 352, viertes Viertel bis Takt 354, drittes Viertel besteht das Stück ausschließlich aus horizontalen Linien der Ganztonleiter im Modus 1, bevor Violoncello und Kontrabaß einen Quartensechsklang als Linie einführen. Diese dynamisch (fff) sehr in den Vordergrund tretende Linie deutet die Ganztonleitern der übrigen Instrumente zur „Begleitung“ um. Entsprechend der Töne der Quarten wechseln sie auf jedem Viertel zwischen Tönen beider Ganztonleitermodi, wobei die Auf- oder Abwärtsrichtung der Linie beibehalten wird. Violoncello und Kontrabaß zeigen sukzessiv besonders deutlich den Zusammenhang zwischen Quartklang und Ganztonleiter, wie er im Eingangsteil beschrieben wurde: abb Die Gleichzeitigkeit von Quartenlinien und korrespondierenden Linien aus Figuren, die in Viertelbewegung zwischen Tönen aus beiden Ganztonleitern abwechseln, wird bis Takt 360 beibehalten, um in Takt 361 in die Quartenlinie in allen Instrumenten umzuschlagen. Diese Linien kommen in Takt 364 als Akkord in den Streichern zum Stehen, während die hohen Holzbläser, später auch Horn, Motive aus anderen Stückteilen fragmentartig wieder aufgreifen. In dem nun folgenden „langsamen“ und „sehr langsamen“ Abschnitt (T. 368-373) werden Transpositionen des Quartenklangs so eingeführt, daß in ihrer Entwicklung immer alle zwölf Töne der Oktave exponiert werden. Sind in dem ersten Akkord sechs Töne des chromatischen Totals enthalten, so entstehen mit der ersten Transpositon nur noch vier neue Töne (T. 370, Kb), in der zweiten die zwei übrigen. Jeder Ton dieser zweiten Transposition wird durch ein Arpeggio eines sechstönigen Quartenakkords von unten erreicht (T. 371373). Mit dem siebten und letzten Arpeggio sind alle zwölf Töne des chromatischen Totals erreicht. abb Die folgenden Takte 374-375 sind harmonisch die exakte Kopie der Takte 3 und 4 des Stückes (zwei Oktaven höher). In Takt 376-377 wird dann der gleiche Quartenakkord über die Dominante D-Dur als Terzquartakkord nach g-moll bzw. G-Dur moduliert. abb Die Definition der gewonnenen Freiheit an der Tonalität mit der Rückwendung auf dieselbe am Ende der Durchführung zeigt sich hier überdeutlich, noch verstärkt durch die nun folgenden zwei Takte, in denen über dem Orgelpunkt auf „C“ in Baßklarinette, Fagott, Kontrafagott sowie den tiefen Streichern eine Akkordkette von Tönen überwiegend aus dem Modus 1 der Ganztonleiter sich in reinem G-Dur, quasi als Plagalschluß auflöst. abb 4. Anton Webern, Entflieht auf leichten Kähnen, op.2 Bei dem dritten hier zu untersuchenden Stück handelt es sich um das Lied „Entflieht auf leichten Kähnen“ op. 2 aus dem Jahre 1908 von Anton Webern für vierstimmigen Chor a cappella. Die Schwierigkeit in der Analyse dieses Stückes im Hinblick auf die Thematik der Arbeit besteht darin, daß, im Unterschied zu den beiden anderen untersuchten Stücken, hier die Ganztonleiter viel weniger scharf als konstruktives Element der Komposition erkennbar ist und sich als Tendenz größtenteils nur statistisch nachweisen läßt. Das Stück besteht aus einer dreiteiligen Form: Teil 1 geht von Takt 1 bis Takt 8, drittes Achtel (bzw. Takt 9, drittes Achtel: Ende des kanonischen Einsatzes). Dieser Teil besteht aus einem zweistimmig homophonen Doppelkanon im 1-Takt-Abstand. Der imitierende Einsatz taucht aus satztechnischen Gründen (Gesangsregister) auch im Umkehrintervall auf. Teil 2 beginnt auf dem zweiten Achtel, von Takt 9 und geht bis Takt 15, sechstes Achtel (bzw. Takt 17, viertes Achtel: Ende aller kanonischen Einsätze). Dieser Teil ist charakterisiert durch wiederum einen Doppelkanon, wobei die zwei Stimmen so gegeneinander verschoben sind, daß alle Stimmen im halbtaktigen Abstand aufeinander folgen (A, S, B, T). Der dritte Teil beginnt in Takt 17 auf dem sechsten Achtel und endet in Takt 25, drittes Achtel. Bis Takt 23, drittes Achtel erstreckt sich wiederum ein zweistimmig homophoner Doppelkanon, der bis Takt 21, erstes Achtel (bzw. Takt 22, erstes Achtel) identisch ist mit dem Anfang des Stückes. Von Takt 23, viertes Achtel bis Takt 24, drittes Achtel verkürzt sich der Abstand der imitierenden Stimmeneinsätze noch einmal auf drei 'Achtel. In Takt 24, achtes Achtel (Takt 23 und 24 sind 9/8-Takte) beginnt ein Schlußteil mit einem Orgelpunkt auf „G“ über zwei Takte (Baß bis zum Ende nun zweistimmig), der den Vollschluß auf G-Dur, entsprechend der Tonart vorbereitet. Der Einsatzabstand der Imitation wechselt noch einmal zur Ganztaktigkeit. abb Die formale Übersicht zeigt deutlich die numerische Strenge in der Dramaturgie dieses Stückes. Bringt man seine traditionelle 2:1 Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit der tradierten Technik des Kanons sowie seiner Engführungsmöglichkeiten, so läßt sich erkennen, daß hier nicht mit der Tradition gebrochen wird, sondern diese mit ihren eigenen Mitteln sich von sich selbst zu emanzipieren sucht. Die kontrollierte Form dieser Bemühung offenbart den Zusammenhang zwischen der Nachvollziehbarkeit dieses Weges aus der Tradition heraus und der musikalischen Sogwirkung zurück zu ihr. Die einzelnen Stimmen verlaufen zumeist in großangelegten, wellenförmigen Bewegungen. Die Melodien selbst bestehen in der Regel aus Gruppen von kleinen und großen Sekundschritten, die durch größere Sprünge (bis zur großen Sexte) miteinander verbunden sind. Die dynamischen Glieder bestehen aus 1,5-2taktigen Crescendo- und Decrescendobewegungen, die sich größtenteils am Auf- und Absteigen der Melodie orientieren und somit mehr deren Expressivität unterstützt als eigenen kompositorischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Die harte Kopplung an Melodie und Text führt, je nach Einsatzabstand der imitierenden Stimme(n) zu komplementären, dynamischen Bewegungen zwischen den Stimmen. Das Stück bewegt sich in einem dynamischen Rahmen zwischen ppp und p. Diese „Leisheit“ wird nur dreimal innerhalb des Stückes verlassen. An diesen Stellen werden Hochtöne der Melodie expressiv durch ein mf hervorgehoben. Das Zusammenspiel dieser Parameter bewirkt die leichte Wellenbewegung des Fortschreitens, den ruhigen, fließenden Charakter des Stückes („Entflieht auf leichten Kähnen“). In Bezugnahme auf die Thematik dieser Arbeit muß zu diesem Stück gesagt werden, daß die Ganztonleiter (und deren Intervall- und Akkordbildungen) hier nicht einzig oder primär zur Tonhöhenorganisation verwendet wurde. Vielmehr ist sie ein wichtiges, statistisch (d.h. quantitativ) nachweisbares Element, das den klanglichen Gesamteindruck des Stückes maßgeblich beeinflußt. Dieser Nachweis sei zunächst versucht mittels der Analyse des ersten Teils des Stückes. Vorab sei gesagt, daß - obwohl klanglich sicherlich nicht identisch - in diesem Stück Komplementärintervalle als satztechnisch bedingte Umkehrungen komponiert wurden. Demnach können hier große und kleine Terzen, sowie deren Umkehrintervalle (kleine und große Sexten) in der Analyse als identisch betrachtet werden. Unter dieser Voraussetzung zeigt sich, daß in den ersten acht Takten des Stückes 18 aller 24 möglichen großen und kleinen Terzen vorkommen. Von 12 möglichen kleinen Terzen sind 7, von 12 möglichen großen Terzen sind 11 vorhanden. 35 von 40 Intervallkombinationen (Anschlägen) zwischen den gekoppelten Stimmen Sopran/Alt und Tenor/Baß sind Terzen 26 davon große und 9 kleine. abb Hier zeigt sich, daß 3/4 aller Terzen große sind (oder deren Umkehrung) und somit einem der Ganztonmodi zugeordnet werden können. Jeweils ca. 1/3 der vorkommenden Terzen können der Tonart G-Dur, dem Modus 1 und dem Modus 2 der Ganztonleiter zugeordnet werden. Nur vier Anschläge können ausschließlich der Tonart G-Dur, jedoch 5mal mehr einer der beiden Ganztonleitern zugeordnet werden. abb Die relative Gleichverteilung aller chromatischen Töne zeigt sich noch deutlicher in ihrer Oktavverteilung. Jede einzelne Stimme füllt in den ersten acht Takten ein chromatisches Feld aus. Die Summe aller Tonhöhen umfaßt zwei chromatisch ausgefüllte Oktaven (d-d2). abb Diese relative Gleichverteilung aller chromatischen Tonhöhen innerhalb von zwei Oktaven macht es möglich, daß schon rein quantitativ keine Schwerpunktbildung in Richtung eines tonalen Zentrums entsteht. Vertikal auftretende Dreiklänge wirken eher befremdlich, als zufällige Erscheinungen horizontaler, melodischer Notwendigkeiten. Abschließend sei an einigen Beispielen der Umgang mit ganztönigen bzw. symmetrischen Akkorden und damit zusammenhängenden Phänomenologien untersucht. Betrachtet man die Stelle von Takt 5, drittes Achtel bis Takt 7, fünftes Achtel unter der Vorausgabe, daß die Intervalle der gekoppelten Stimmen auch in ihrer Umkehrung gesehen werden können, so ist es möglich, eine Kette von 14, aus zwei Terzen aufgebauten, symmetrischen Akkorden zu erzeugen. Diese Symmetrierung zeigt deutlich die Tendenzlosigkeit, die durch das Zusammenwirken einer gleichbleibenden Intervallfarbe und deren achsensymmetrische Anordnung entsteht. abb Die folgende Passage von Takt 11, neuntes Sechzehntel bis Takt 12, zwölftes Sechzehntel zeigt das Auftreten ganztöniger, symmetrischer Akkorde aus beiden Modi in symmetrischer Anordnung um eine virtuelle, rhythmische Achse. abb Es stellt sich die Frage, ob rhythmische Symmetrien über die repetitive Gleichförmigkeit gleichmäßiger Achtel- oder Sechzehntelbewegungen hinaus die Tendenzlosigkeit der Tonhöhen unterstützen oder vielmehr dazu geeignet sind, tonale Strukturen durch andere, musikalisch sinnstiftende zu ersetzen. Für Letzteres spricht die unmittelbar darauffolgende Passage. Hier zeigt sich musikalische Zusammenhangsbildung auf engstem Raum durch das komplexe Wechselwirken alternierender Ganztonmodi, das lineare Ansteigen der Zeit ihres Erklingens und das wiederholte Auftreten ihrer rhythmischen und melodischen Partikel. abb Der Schlußteil des Stückes (Takt 25-28) zeigt am deutlichsten die Schizophrenie zwischen tonaler Gebundenheit (Orgelpunkt auf „G“ und Schlußakkord in G-Dur) und freier ungerichteter Akkordfortschreitung in beiden Ganztonmodi, wobei jeder dieser Akkorde immer nur einem der beiden (äquidistanten) Großterzakkorde eines jeden Modus zugeordnet werden kann. abb Die Schere zwischen Vergangenheit und Zukunft manifestiert sich hier als hörbares Beispiel. So ist es nicht verwunderlich, daß nach Takt 2 7 der Vollschluß in G-Dur mehr willentlich gesetzt als musikalisch notwendig erscheint. 5. Schlußbemerkung Wie sich gezeigt hat, schafft die Ganztonleiter mit den ihr typischen Akkordbildungen die Möglichkeit, tonale Strukturen zu erweitern, aus diesen heraustretend einen klanglichen Schwebezustand zwischen tonal gebundenen Klängen und Zusammenhangsbildungen außerhalb eines tonalen Zentrums herzustellen. In den hier vorliegenden Werken deuten sich die Möglichkeiten einer Strukturbildung jenseits von Tonalität an, die Bindung an ein tonales Zentrum, sei sie auch kaum noch nachvollziehbar, wie bei Webern, op. 2, wird jedoch noch nicht aufgegeben. Schönberg nimmt in seiner Kammersymphonie insofern die extremste Position ein, als daß er einerseits über weite Strecken das strukturelle und strukturbildende Potential von Ganzton- und Quartenklängen in ihrer Beziehung zueinander vollständig ausarbeitet, andererseits Umdeutungsmöglichkeiten nutzt, um diese Gebilde in Beziehung zu einem tonalen Rahmen zu setzen. Bei Alban Berg in op. 2, Nr. 2 bilden Ganztonmodi in ihrer vertikalen Gestalt das Gerüst der Komposition. Dadurch jedoch, daß diesen Akkorden eine dominantische Gestalt zugrunde liegt, die nach Auflösung verlangt, welche aber nicht wirklich erfolgt, wird die hierarchische Ordnung um ein tonales Zentrum aufgehoben (während es gleichzeitig dadurch auch immer wieder angedeutet wird). In op. 2 von Anton Webern wiederum ist die Verarbeitung der Ganztonleiter weniger offensichtlich und in die strenge, tradierte Technik des Kanons eingebettet. Durch die Verwendung der Ganztonmodi bewegen sich die Stimmen auf engem Raum in dem chromatischen Total, es entstehen rhythmische und klangliche Symmetrierungen, so daß eine Schwerpunktbildung um ein tonales Zentrum nicht mehr zu erkennen ist. Allen Werken gemeinsam ist das Herstellen eines empfundenen Schwebezustandes zwischen tonalen Beziehungen und dem Heraustreten aus diesen.