vorgelegt bei Prof. Dr. Horst Weber
Gliederung:
- Kurze geschichtliche Darstellung des Crescendos
- Kriterien zur Untersuchung von Crescendos
- Beispiele
- Zusammenfassung
1. Kurze geschichtliche Darstellung der Entwicklung der Dynamik und des Crescendos
Das Wort Dynamik ist, soweit bisher bekannt, aus der Wissenschaftssprache des 18. Jh., besonders der Kants, von Hans Georg Nägeli auf die Musik übertragen worden. Nägeli unterscheidet drei Arten der Dynamik: 1. das natürliche Tongewicht ( die Unterscheidung "guter und schlechter" Taktzeichen); 2. die dynamisch künstliche Graduation und 3. die Dynamik des Wortausdrucks. Der Begriff bürgert sich im Verlauf des 19. Jh. langsam in die Musikliteratur ein und wechselt dabei mehrfach seine Bedeutung. Allgemein spricht man in musikalischer Praxis und Wissenschaft erst seit Hugo Riemann von musikalischer Dynamik und hat sich bis zum heutigen Sprachgebrauch dahin entwickelt, mir ihr die Lehre von den Klang- oder Tonstärkegraden zu bezeichnen.Kann allgemein Musik als Äußerung eines immanenten Kräftespiels verstanden werden, dessen Träger primär die musikalischen Parameter sind, so hat Riemann, von der Metrik ausgehend, zuerst die besondere Rolle des Dynamischen systematisch untersucht und dargestellt. Die Dynamik als Element der kompositorischen Gestaltung ist erst in der 2. Hälfte des 16. Jh. konkret faßbar, als erstmals in der Musiktheorie von der Realisation von Tonstärkegraden die Rede ist und Komponisten dementsprechende Bezeichnungen im Notentxt ihrer Kompositionen verwenden. Dies bedeutet keineswegs, daß die Dynamik vorher nicht musikalisch praktiziert wurde, sondern daß die Dynamik bis dahin noch kein wesentlicher Bestandteil des musikalisch, kompositorischen Denkens war. Giusefe Zarlino weist in seinem Istitutioni harmoniche (1558) auf die Notwendigkeit hin, die Stimmen mit Mäßigung zu gebrauchen und im polyphonen Gesang aufeinander zu beziehen. Weiterhin macht er auf unterschiedliche Gesangsweisen in der Kirchen- und Kammermusik aufmerksam. Die Sichtweise der Dynamik änderte sich in der instrumentalen Musik vor allem durch das Schaffen der venezianischen Schule des späten 16. Jh. In ihrem Umkreis erschienen zum ersten Mal auch die Bezeichnungen forte und piano, konzeptionell und als das ganze Stück wesenhaft bestimmende Vortragsweise in G. Gabrielis Sonata pian e forte (1597), weiterhin u.a. bei A. Bianchieri La piazza senile (1598). Der hier beabsichtigte Effekt weist auf das Echo hin, das in dieser Zeit ein beliebtes musikalisches Mittel war. Dynamische Nuancen kamen in erster Linie in der unvermittelten Aufeinanderfolge von forte und piano ( und umgekehrt) zum Ausdruck. Symptomatisch hierfür ist u.a. insbesondere das Tutti-Solo-Prinzip des Concerto Grosso und verwandter Gattungen. Man spricht hier von einer für die gesamte Barockzeit charakteristischen "Terassen- bzw. Stufendynamik". Die dynamischen Stufen sind auf einen ideellen Mittelwert zu beziehen, der im einzelnen von zahlreichen Faktoren abhängt, etwa von Instrumententypus und Raum, von der Anzahl der Stimmen und Instrumentalisten. Hieran anknüpfend erscheint dem Barockmusiker das Dynamische als etwas Akzidentelles, zum anderen als einen Affektausdruck und damit als ein Element der musikalischen Rhethorik (vgl. z.B. Christoph Bernhards Traktat Von der Singe-Kunst oder Manier, um 1650) Abstufung und Schattierung der Töne, Tonlinien und Klänge, sprich der "Übergangs-, Evolutions- oder Kurvendynamik" mittels Crescendo- und Decrescendoangaben wurzeln in der gesteigerten solistischen Gesangskunst des Frühbarocks. Als eigens notierte Ausführungsvorschrift für das Lauter- und Leiserwerden ist die Technik des An- und Abschwellen eines Tones zwar erst ab Mitte des 18. Jh. belegt, doch scheint sie bereits um 1600 in den Gesangsschulen gelehrt worden zu sein. Hier ist Guilio Caccinis Vorrede zu seinem Nouve Musiche (1601) als wichtigste Quelle für eine Musizierpraxis zu nennen, in der das Dynamische auch im Sinne einer verfeinerten Vortrags- und Gesangskultur begriffen wird. Auch P.Fr. Tosi beschreibt sie in Opiniori de' cantori antichi e moderni (1723) bereits als ältere Praxis. Eine genauere Ausführungsanweisung innerhalb kürzerer musikalischer Abschnitte findet sich als "louder by degrees" bei M. Locke in The Tempest, (1667 oder 1675; ungenaue Zeitangabe in der Literatur) wird 1686 von Mylius genau beschrieben und 1711 von Maffei und 1740 von de Brosses für römische Konzerte bezeugt. Dies entspricht der Aneinanderreihung dynamischer Vorschriften, etwa als Folge pianissimo - piano - forte bei italienischen Komponisten , so bei Domenico Mazzocchi in seinen 5st. Madrigalen (1638). Der Ausdruck crescendo selbst wird als Anweisung erstmals 1741 von N. Jiommelli in Astianatte verwendet. Das Schwellzeichen in Keilform bei Fr. Geminiani (Prime Sonate 1739) bezieht sich nur auf Einzeltöne, ebenso die seit 1733 bei Jean Phillipe Rameau gebräuchlichen Dreiecksformen für crescendo und diminuendo. Diese Formen bildeten sich zur heutigen Winkelform um und wurden von J. Stamitz das erste Mal auch auf längere Tonfolgen angewandt. Ausgehend von den Streichern werden langsam auch die übrigen Orchesterinstrumente in diese Praxis einbezogen.
Unter Berufung auf Ch. Burney, J.Fr. Reichardt und Chr. Schubart werden von Hugo Riemann erster Gebrauch und Notierung fälschlich der Mannheimer Schule zugeschrieben. Tatsächlich geht seine Einführung in Deutschland vermutlich auf den seit 1753 in Stuttgart lebenden N. Jommelli zurück. Immerhin war das Mannheimer Orchester um die Mitte des 18. Jh. dafür bekannt und berühmt, daß es dank seiner hohen Perfektion im Zusammenspiel gerade auch das Crescendieren und Decrescendieren als Vermittlung starker musikalisch dynamischer Gegensätze überzeugend zum Ausdruck bringen konnte. Auch gibt es in den Orchesterwerken der Mannheimer Schule, speziell in den schnelle Sinfoniesätzen, gewisse satztechnische Erscheinungen, die man als Mannheimer Crescendo bezeichnet und zu den markanten Stileigentümlichkeiten dieser Komponistengruppe gehört. Das Mannheimer Crescendo wurde später vor allem von den Komponisten der französischen Revolutionsmusik weiterentwickelt (s. E.N. Méhuls Ouverture Le jeune Henri- Chasse). Diese Umformung und neue Sinngebung der Dynamik kennzeichnet jener krisenhafte Prozeß der Barockmusik, der formal mit dem Schwinden des Concerto-, Suiten- und Kantatenprinzips und den Durchbruch zur Sonate und Sinfonie, satztechnisch mit einer Neuordnung der polyphonen und homophonen Kräfte in der Musik zusammenfällt. Geistige Grundlage ist dabei ein neues epochales Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu Natur, Welt und Gott wie es sich in der bürgerlichen Idee, in Aufklärung und Sturm und Drang bildet. Beispiel dafür mag die Musik Carl Philipp Emanuel Bachs geben. Sie ist außerordentlich vielschichtig dynamisch gestuft, neigt zu jähen Umschwüngen und Kontrasten; motiv- und satzbezogene dynamische Perioden beginnen sich zu scheiden. Die am programmatisch benannten Pianoforte entwickelte nachbarocke Sonate überwindet nach und nach die alten Satzgestaltungsprinzipien wie Imitation, Fortspinnung und Sequenz und nähert sich in der immer stärker werdenden Ausprägung ihrer Dynamik der, der Mannheimer Kammermusik und Sinfonik. Die Vielfalt immanenter Prägungen, die bald immanentes Ziel der klassischen Musik wird; ihr antithetisch- dialektischer Grundcharakter, der, auf Steigerung und Höhepunkt hin angelegt, gleichermaßen Umformung und Entwicklung, Symmetrie und Korrespondenz einschließt, eine fließende, schnell wechselnde und unmittelbar reagierende Dynamik ist es, die diesen Tendenzen entgegenkommt. Während Haydn und Mozart einen älteren dynamischen Typus vertreten, insofern, als die Klanggruppen ihres Orchesters zugleich Tonstärkegrade realisieren, wird bei Beethoven die Identität des Melodischen von der Dynamik her gesprengt. Er entdeckt, basierend auf seinem Verhältnis zum Einzelton und seiner Entfaltung, in der Dynamik ein strukturbildendes Element seiner Musik. Die Kontrastdynamik im Thema, die Vorbereitungsdynamik beim Eintritt neuer Satzabschnitte, die sich oft zur Spannungsdynamik steigert sowie dynamische Umkehrung und Trugschluß weisen als Termini auf eine Dynamik hin, die dem Stadium des Akzidentiellen vollends entwachsen ist. Die Entwicklung des Crescendos weicht in der Romantik individuellerer Verwendungen wie z.B. der harmonischen Kenntlichmachungen bei Schubert oder des vom piano ausgehenden "Aufschwungtypus" bei Schumann. Erst bei Wagner zeigt sich wieder eine deutliche Entwicklungsstufe, die in ihrer reichhaltigen dynamischen Differenzierung fixierte Stufen zu vermeiden sucht und sich somit in einem permanenten Zustand des Übergangs befindet. Die spätromantische Dynamik erweitert die Dynamik in ihre Grenzbereich . Sind es bei Reger noch die Grenzen von pppp und ffff, erweitert Verdi die untere Grenze zum ppppp und Tschaikowsky in seiner 6. Sinfonie sogar zum pppppp.Die Musik des beginnenden 20. Jh. nimmt zum Phänomen der Dynamik sehr unterschiedliche Standpunkte ein, sei es die Renaissance einer barocken Dynamikauffassung bei Hindemith oder Strawinsky, die einhergeht mit der Renaissance historischer Musikinstrumente und Musizierstile oder die Bestrebungen zur Emanzipation der Dynamik als eigenständigen Parameter, die ihre Ursprünge in der Wiener Schule und der damit verbundenen dodekaphonischen Kompositionstechnik nehmen. Zweiteres führte dazu, Versuche anzustellen den Reihenbegriff auf alle musikalischen Parameter anzuwenden. Um das Problem serieller Organisation von Dynamik haben sich besonders P. Boulez (1963) und Karlheinz Stockhausen (1963) bemüht.
2. Kriterien zur Untersuchung von Crescendos
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich die historische Entwicklung des Cresendos (und damit verbunden auch immer das Decrescendo) als Synthese zweier Komponenten darstellen läßt, einer entwickelnden und einer statischen: der um einen dynamischen Mittelpunkt an- und abschwellenden Belebung eines Tons als vokaler Vortragsanweisung und der dialektischen Gegenüberstellung von Laut und Leise im Verständnis einer Echowirkung. Die Kombination erfolgte zunächst in der gestuften Darstellung diskreter, zu- und abnehmender Dynamikbezeichnungen, die dann überging zu stufenlosen Form in der Verwendung von Winkeldarstellungen. Hierbei sei bemerkt, daß die Entwicklung zwar von der Vokalmusik ausging, sich aber im Zuge der Aufführungspraxis mehr und mehr zur Instrumentalmusik hin verlagerte. Obwohl das Crescendo schon in der Musik Beethovens als formbildendes Element erkannt werden kann, war es bis zum Beginn des 20. Jh. hauptsächlich an das Gestische der Musik gebunden und somit meistens als Verstärkung an Parameter wie Tonhöhe, Rhythmus und Instrumentation ( bzw. Dichte ) gekoppelt. Erst die Spätromantik entwickelt das Crescendo in seinen ganzen instrumentatorischen Schattierungen bevor es in der Musik des 20. Jh. im Zuge der Bestrebungen um die Emanzipierung der Dynamik als eigenständigen Parameter im Sinne eines Reihenprinzips zum Teil wieder durch die, für diese Zwecke besser geeignete gestufte Darstellung ersetzt wurde. Erst die Musik der jüngsten Vergangenheit vereinigt das gesamte Wissen über das Crescendo und benutzt es in seinen vielfältigen Erscheinungsformen.
Daraus folgend unterscheide ich in meinen Betrachtungen drei Formen des Crescendos:
- Das belebende Crescendo bezeichnet eines, das zu einem Klang gehörig um eine definierte dynamischen Stufe an- und abschwillt.
- Das gestische Crescendo ist ein solches, das durch andere Parameter
dargestellte musikalische Abläufe konturiert und verstärkt.
- Das formale Crescendo bildet sich nicht mehr primär dynamisch ab,
sondern projiziert seine dynamisierende Wirkung darüber hinaus als
konzeptionelle Idee auf andere Parameter und gewinnt dadurch die
Möglichkeit, ganze Musikstücke formal zu gestalten.
3. Beispiele
In der Folge versuche ich anhand einiger Stücke die aufgestellten Kriterien exemplarisch darzustellen:
3.1 Leonorenouverture Nr. 3, Ludwig van Beethoven
An der 3. Leonorenouverture läßt sich der Zusammenhang zwischen Beethovens Abspaltungstechnik und seinen Cresendoformen erkennen. Darüber hinaus zeigt sich, basierend auf seinem Verhältnis zum Einzelton und seiner Entfaltung, ( erkennbar in allen Unisonoanfängen der Ouverturen ) die Verwendung von Dynamik als strukturbildendes Element. Die Kontrastdynamik in seinen Themen und ihren Evolutionen, die Vorbereitungsdynamik beim Eintritt neuer Satzabschnitte, oft zur Spannungsdynamik gesteigert, dynamische Umkehrung und dynamischer Trugschluß weisen als Termini auf Einzelheiten einer Dynamik hin, die sich anschickt dem Stadium des Akzidentiellen zu entwachsen.
Die ersten sieben Takte beginnen mit dem Diminuendo einer Unisono absteigenden Skala, die in einem dreimalig wiederholten fis mündet. Dieser Anfangsgestus kann als dynamische Umkehrung späterer Crescendobewegungen angesehen werden. Gleichzeitig ist es die bewußte Setzung des musikalischen Nullpunkts, dem fis- Unisono, von dem die gesamte folgende Themenbildung des Adagioteils seinen Anfang nimmt. Die Neutralität des Unisonos wird so zum Meßpunkt für die Größe der motivischen,harmonischen und melodischen Entwicklung. Das fis ist nach dem Typus des vokalen Belebungscrescendos dynamisiert und beschreibt damit musikalisch die kleinste Ausformulierung von Crescendo- und Decrescendobewegungen in diesem Stück. Die, mit der gleichen Dynamisierung aber der Hälfte der Dauer dem fis aufgesetzten Terzen der Fagotte, weisen auf ein kompositorisches Prinzip hin,daß im Thema des Allegroteils seine Formulierung findet.
Das Allegrothema ist gebildet aus Strukturen streng logischer Verhältnisse auf der Grundlage der motivisch- thematischen Entwicklung: kleine Motive werden durch die darauffolgende große Phrase vereinigt. Der dann als Abspaltung bezeichnete Vorgang ist somit ein Rückprozeß, der die große Phase wieder in kleine Teile aufspaltet. Dieser Strukturtypus wird in der Literatur auch als "Rhythmus der Strukturelemente" (Viktor Zukkerman) bezeichnet. Die schematische Darstellung veranschaulicht den beschriebenen Sachverhalt:
1) 8 +4 +16 +4 +1 +8 +3 +4 2) 8 4+4 +4 +4 +4 +3 +2+2 +2 +2 +2 +2 +1 +1+1 +1+1 +1+1 +1+1 +1+1+1 +1+1+1+1 +4 ( =1) = 32 4: Elemente a,b,c,d 2: Elemente a,b 1: Element a
Die ersten acht Takte bestehen aus zwei viertaktigen Motiven mit den Elementen a,b,c und d. Die nächsten vier Takte spalten das Motiv in zwei zweitaktige mit den Elementen a und b. Von dem zweitaktigen Motiv wird das Element a abgespalten und ein- bis viermal auf einer Stufe wiederholt, wovon die zweimalige Wiederholung auf vier Stufen erscheint. Die dynamische Fähigkeit besteht in der Geschwindigkeitszunahme durch die Verkürzung des Motivs. In Punkt der größten Teilung wird die Wiederholung eingeführt und diese Fähigkeit erweitert durch den Aspekt der Insistenz. Vor dem Erreichen des dynamischen Scheitelpunktes, einer "sich austobenden Entladung" (Alfred Heuß), einer "Explosion" (Victor Zukkermann) mündet diese größte Teilung in einem viertaktigen Akkordstillstand, der durch sein rhythmisches Innehalten die vorangegangene Entwicklung verdichtet. Die eintaktige Teilung (1) wird hier auf vier Takte erweitert, die durch ihren Bewegungsstillstand als eintaktig empfunden wird. Dadurch wird der Höhepunkt als unumgänglich markiert.
Das in Takt 252 seinen Ausgang nehmende 26taktige Crescendo nimmt gleich das Element a als Anfangsmotiv und führt damit einen angefangenen Prozeß auf einem fortgeschrittenen Entwicklungsniveau fort.
1) 4 +2+2 +10 +4 +4 2) 8 4 +4 +4 +6 +4 +4 +2 +2 1 +1+1 +1 +1 +1+1 +1 +1+1+1+1 +1+1+1+1+1+ 1 +1+1+1+1 (+1+1+1+1) = 26
Die ersten zwölf Takte (kursiv) sind die instrumentatorische, motivische Vorbereitung auf das eigentliche 16taktige Crescendo. Nach 4 Takten setzen 1.Vl und Vla ein, die das Motiv übernehmen, während es in den Celli und Kontrabässen nach unten geklappt wird. Nach wiederum 2 Takten verdoppeln die 2.Vl die Bewegung von 1.Vl und Vla. Im 9. Takt wird die halbe Note des Motivelements a auf drei Viertel augmentiert. Das so entstehende Motiv wird zwischen hohen und tiefen Streichern kanonisch ineinander verschränkt. Trotz der Verlängerung von Dauern entsteht so eine Verdichtung in der Viertelrepetition des Summenrhythmus. Nach 4 Takten wird diese Viertelbewegung in den Violinen offenglegt und gleichzeitig jede zweite Viertel durch eine entsprechende Pause ersetzt. Die Viertelrepetition des Summenrhythmus bleibt bestehen ist nun aber wesentlich stärker konturiert. Die Aufwärtsbewegung der chromatischen Skala wechselt von der Ganztaktig- zur Halbtaktigkeit. Im 18. Takt des Crescendos setzen die Bläser und Pauken ein, wovon die Blechbläser, Pauken und die Flöten mit der Repetition auf einer Tonhöhe die letzten vier Takte des Innehaltens vorbereiten und die übrigen Holzbläser die Streicher verdoppeln, die von der chromatischen Skala in einen Dominantseptakkord wechseln,der sich nun abwärts bewegt. In den letzten vier Takten wechseln die Blechbläser ( + Posaunen ), Pauken und Flöten in einen ausgehaltenen Akkord in höchster Dynamik. Im Wirbel der Pauken zeigt sich hier der Zustand höchster musikalischer Anspannung, der noch dadurch erhöht wird das sich die hohen Streicher, Oboen und Klarinetten im drittletzten Takt von den tiefen Streichern und Fagotten abspalten und noch einmal in eine Aufwärtsbewegung wechseln.
Die hier beschriebenden Crescendos sind, obwohl erkennbar formbildend so doch nicht als formal zu bezeichnen. Die Dynamik ist hier gleichermaßen Ausdruck einer motivischen Verdichtung, wie diese als Katalysator für die Stärke des dynamischen Umfangs angesehen werden kann und somit ein quasi chemische Wechselwirksamkeit entsteht ,die dem kompositorischen Prozeß einen fast als körperlich zu bezeichnenden Gestus aufprägt. Das Crescendo dient hier der Kenntlichmachung und dem Vorantreiben der Motiventwicklung als hauptsächlichem kompositorischem Prozeß, wird aber nicht unabhängig von diesem behandelt.
3.2 Vorspiel zu Tristan und Isolde, Richard Wagner
Fast in der gesamten Literatur über dieses Vorpiel wird auf die Raffinesse der Harmonik hingewiesen und die Dynamik zwar als einzigartig beschrieben, so doch mehr als Phänomen hingenommen. Weist doch A. Lorenz mit akribischer Genauigkeit auf "diese fabelhafte Symmetrie" hin "welche sich der gänzlich anders geleiteten Dynamik entgegenstellt und so einen dramatischen Konflikt schon ins rein musikalische Geschehen trägt", so macht er sich doch nicht die Mühe das dynamische Geschehen so weit zu untersuchen, daß ihm bestimmte ähnliche Tatsachen bei näherer Untersuchung hätten auffallen müssen.
Führen wir jedoch zuerst die harmonische Analyse des Vorspiels durch:
a 17 T. C - A 7 T. = 24 T. E - d 12 T. F - cis 8 T. E - Av 18 T. = 38 T. A - a 11 T. C - (es 7 T. Es) - a 4 T. = 22 T. a 10 T. ( Coda ) c 17 T. = 27 T. ( Übergang nach c und Akt 1 ) = 111 T.
Die Symmetrie des Tonartenverlaufs bildet sich um den achttaktigen Mittelsatz. Vor ihm stehen 36 Takte, 2 Fermaten und ein langes Ritenuto und nach ihm 40 Takte. Gleichzeitig entwickeln sich die Tonarten im Quintenzirkel aufwärts von keinem Vorzeichen ( a- moll ) hin bis zu vier Kreuzen ( cis- moll ) und zurück. Diese Entwicklung ließe sich formal als Tonartencrescendo ( bzw. -decrescendo ) bezeichnen. Im Gegensatz zu diesem formal, harmonischen Crescendo ist das reale, dynamische Crescendo strukturell anders gegliedert, obwohl es in der statistischen Analyse beeindruckende Analogien zu dem der Tonarten aufweist. Für diese Analyse teilen wir das gesamte Vorspiel in drei Teile, die für die dynamische Bewegung entscheidend sind. ( Hierbei wird, im Gegensatz zu anderen Zählungen der Auftakt nicht als Volltakt gezählt, sondern beim ersten Volltakt als Takt 1 begonnen):
Teil 1: T. 1 - 52 (52 T)
Exponierung der Motive, wechselnde Crescendo- und Decrescendobewegungen
Teil 2: T. 53 - 82 (30 T)
große Crescendobewegung
Teil 3: T. 83 - 111 ( 29 T )
Decrescendobewegung und Modulation zum 1. Akt
Der Text wird unter drei Gesichtspunkten in Takten ausgezählt:
(hierbei wird die globale dynamische Bewegung des Orchesters zugrunde gelegt)
- Crescendobewegungen
- Statische Dynamik und Pausen
- Decrescendobewegungen
cresc. stat. + decresc. Pause Teil 1 24 9 19 = 52 Teil 2 24 5 1 = 30 Teil 3 7,5 11,5 10 = 29 55,5 25,5 30 = 111 Takte
Die so gewonnenen Verhältnisse führen zu folgenden Ergebnissen:
- Die Zahl der Crescendotakte entspricht exakt denen, der Summe von Takten dynamischer Statik, Pausen und Decrescendotakten. Insofern zeigt sich die Symmetrie nicht nur in der Harmonik, sondern auch im dynamischen Gleichgewicht des Stückes. Die letzten 26 Takte des Vorspiels sind, nach Vollendung der harmonischen Symmetrie nicht nur als Überleitung zum 1. Akt zu sehen, sondern auch als Ausgleich der dynamischen Entwicklung des gesamten Vorspiels.
- Die große Crescendobewegung des 2. Teils wird statistisch gesehen im 1. Teil vorweggenommen und obwohl es die gleiche Anzahl von Crescendotakten gibt, bekommen diese im ersten Teil durch den geringeren dynamischen Hub und den hohen Ausgleich durch Decrescendos keine Signifikanz. Der erste Teil kann infolgedessen dynamisch als innere Vorbereitung auf den 2. Teil angesehen werden.
- Im 1. Teil besteht ein hoher dynamischer Ausgleich. Da die Decrescendi fast alle direkt einem Crescendo folgen und keine hohen dynamischen Spitzen erreicht werden überwiegt der belebende Charakter.
- In Teil 2 ist der überwiegende Anteil an Crescendotakten offensichtlich. Hier herrscht trotz der großen Länge der Crescendobewegung der gestische Moment vor, da in der globalen Bewegung immer decrescendierende Anteile eingewoben sind, die die Linearität der gesamten Bewegung aufbrechen und so die dynamische Zunahme in der Wahrnehmung immer wieder erneuern.
- Der 3. Teil ist in den Anteilen von Crescendotakten, Takten mit statischer Dynamik, Takten ohne Dynamik (Pausen) und decrescendierenden Takten relativ ausgeglichen. Der beruhigte Charakter dieses Teils zeigt sich auch de facto: Die Ungleichgewichte, die in den vorangegangenen Teilen entstanden sind werden hier ausgeglichen und das gesamte Vorspiel in eine dynamische Waage gebracht.
In diesem Vorspiel zeigt sich schon eine sehr ausgereifte formale Gestaltung durch den Crescendogedanken, der, obwohl er in den Parametern von Harmonik und Dynamik gleichermaßen formuliert wird, nicht als konzeptionell gelten kann.
3.3 Daphnis & Chloe, Maurice Ravel
Ravel bietet in seinem Ballett eine Vielzahl gestischer Crescendoformen, die vor allen Dingen unter dem Aspekt des Zusammenhangs zwischen Instrumentation, zeitlicher Gliederung und psychologischer Wahrnehmung interessant erscheinen. Von den vielen Crescendos dieses Stückes möchte ich zwei exemplarisch herausgreifen: