Brentano, Wiegenlied

 

Vortrag über die Komposition "Brentano, Wiegenlied"
08 02 1994, Folkwang Hochschule, Essen


Das Stück "Brentano, Wiegenlied" versucht, in der Kombination zwischen instrumentaler und elektronischer Musik, neue Räume in der Formulierung abstrakter Bildlichkeiten zu finden. Die Option des extremen Umgangs der Elektronik mit fast allen Parametern führt zu einer neuer Sichtweise der Körperlichkeit des Instrumentalen und somit zu einer Bildhaftigkeit, die nicht nur in der Gegensätzlichkeit menschlicher und maschineller Ausführung besteht. Die fließende Form entsteht hier nicht nur formal, strukturell sondern durch die Räumlichkeit in der Darstellung des musikalischen Inhalt zwischen zwei Medien. Darüberhinaus besteht in der elektronischen Musik die Schnittstelle zur konkreten Realität, die in der Lage ist Zustände zu selektieren und durch ihre Herauslösung aus naturgegebenen Komplexitäten Räumlichkeiten entstehen zu lassen, die in einer bewußt nicht möglichen Zusammenstellung neue Aufführungsmöglichkeiten suchen. Diese entstehen als eine Art bewußtgemachter Realität als künstliche Schaffung eines nicht vorhandenen Aufführungsortes. Mehrkanaltechnik, Phantomschall und künstliche Raumgrößen, -positionen und -eigenschaften beschreiben diesen Ort rein musikalischer Natur, der nur im Zeitpunkt des Erklingens Ähnlichkeiten zu architektonischen Räumen aufweisen kann mit dem Unterschied nicht an einen real existierenden Ort gebunden zu sein. Am Anfang steht die Auswahl eines adäquaten Textes. Da für mich von vorneherein feststand in der Textbearbeitung primär klanglich orientiert zu arbeiten, benötigte ich einen, der von seiner Art her nicht die Notwendigkeit einer Textvertonung in sprachlicher Semantik verlangte. In dem Wiegenlied von Clemens Brentano fand ich ein Gedicht, daß exakt diesen Ansprüchen entsprach.

Singet leise,leise,leise
singt ein flüsternd Wiegenlied
von dem Monde lernt die Weise
der so still am Himmel zieht

Singt ein Lied so süß gelinde
wie die Quellen auf den Kieseln
wie die Bienen um die Linde
summen, murmeln, flüstern, rieseln
Ich zitiere aus "kleine deutsche Versschule" von Wolfgang Kayser:

" Es enthält keine großen Gedanken, nicht einmal kleine, glänzt nicht durch sprachliche Prägungen; im Grunde realisieren wir die Bedeutungen kaum. Wir fühlen hier und da etwas auftauchen, aber es schließt sich nichts zu einem anschaulichen Bilde, und es stiften sich keine festen Beziehungen zwischen den Phänomenen, die da auftauchen. Es käme auch etwas Schlimmes heraus, wenn wir es erzwängen; vom Monde sollten wir eine Melodie lernen oder den Quellen oder den Bienen ein Lied abhören, die also nachts herumschwirren? Es wird uns unmögliches zugemutet, wollten wir die Bedeutungen voll erfassen und miteinander verbinden. Wir können es nicht und tun es auch nicht. Andere Kräfte verhindern den Vollzug, weil sie uns ganz erfüllen, so daß es nur bei schemenhaften Andeutungen bleibt. Das ist einmal der Klang. Doe letzte Zeile etwa ist im Klang von solcher bezwingenden Steigerung, Aufhellung, von so unzerbrechbarer Fügung, daß wir nach keiner anderen, etwa logischen Rechtfertigung ihrer Fügung suchen. Das ganze Gedicht lebt darübwer hinaus von der magischen Wirkung der weichen l- und m-Laute, der hellen ei-, ie-, ü-Klänge, mit denen einige dunkle Töne wunderbar kontrastieren."

Bei einer statistischen Analyse der Buchstaben ohne ihre phonemische Gestalt fallen die Eigenheiten des Gedichtes noch deutlicher auf und spiegeln dessen hohe Ausgewogenheit in der sprachlichen Klanglichkeit wieder:

Buchstaben:
e
i
n
s,z
l
d
t
m
r
g
w
f,v
o
ü
u
a
k,q
h
b
1. Strophe:
21
13
8
10
9
6
6
5
3
3
2
2
3
1
1
2
2. Strophe:
21
13
13
8
9
7
6
4
3
2
2
2
1
2
3
1
2
1

- Es besteht hier eine auffallende Gleichverteilung bzw. Symmetrie der Phoneme zwischen den zwei Vierzeilern.
- Die Verteilung der Quantitäten weisen stark Ähnlichkeiten zur Fibonaccireihe auf, wobei die wesentlich, stärkere Gewichtung auf den weichen, klingenden Phonemen offensichtlich ist.
- Die Gesamtwörterzahl erweitert die Reihe um den nächsthöheren Wert: 34
- Das Verhältnis von Silbenzahl zu gesamter Wörterzahl ist exakt 3 : 2

Unter diesen Voraussetzungen versuchte ich nun parametrische Entsprechungen zu finden die der Ausgangspunkt meiner Komposition bilden sollten:

Zehn Dynamiken werden den Formantbereichen entsprechend von hoch nach tief, in der Abbildung von oben nach unten und von links nach rechts entsprechend des sogenannten Formantdreiecks zugeordnet. Dabei handelt es sich nicht um eine sereialle Zuordnung, sondern um eine generelle Tendenz der Dynamik, die den Notwendigkeiten der Komposition untergeordnet ist und entsprechend angepasst wird.



Die Tonhöhen leitete ich von den Zentralfrequenzen des hohen und tiefen Formantbereichs der menschlichen Stimme ab.

Tonhöhen entsprechend der Formatbereiche F1 und F2 für die Phoneme i: und I

Formantbereich i wird mit den Intervallen der oberen und unteren Frequenz der Formante von I transponiert und umgekehrt. Es entstehen zwei vierstimmige Akkorde.






1. Transposition von i: auf F1 von I
2. Transposition von i: auf F2 von I
3. Transposition von I auf F1 von i:
4. Transposition von I auf F2 von i:








Der obere Akkord verschiebt sich um das Intervall nach F1 von i, der Quinte abwärts, bis er auf der Höhe des unteren Akkords in diesem umspringt. Das Intervall nach F2 von i findet sich als interne melodische Bewegung zwischen zwei Akkorden.




Entsprechend einer Wiegenbewegung erfand ich eine rhythmische Zelle: Als rhythmische Übersetzung eines bewegten Bildes beschreibt sie das Anstoßen, die zwei Viertel Kreis der Hinbewegung, den Umkehrpunkt und die verkürzte Rückbewegung; Accelerando und Ritardando sowie das Belebungscrescendo beschreiben die Bewegungszu- und abnahme des Wiegens, der Umkehrpunkt mit der Geschwindigkeit "null" findet sich in der Fermate und das größere Crescendo steht für die Entfernung der Bewegung aus der Sicht des Betrachters.



Für den gesamtformalen Aufbau wird die Dauer der Quintolen Achtel auf eine Dauer von 39" gedehnt. Es entstehen 13 Formteile, wenn man den Rhythmus um eine vertikale Achse spiegelt und die in der Mitte entstehenden Pausen zu einer Achtel zusammenfaßt.
Mit den verschiedenen Gewichtungen zwischen Chor und Elektronik ergibt sich ein Fomverlauf, der klanglich orientiert ist an einer Lesung der quantitativ abnehmenden Phoneme mit den aus den langen und kurzen Phonemen zusammengefaßten Hauptdynamiken. Durch die Fokussierung auf einzelne Phoneme innerhalb eines Formteils werden klangliche Zustände des Gedichts hervorgehoben und seine Bildlichkeiten akustisch dargestellt und in andere transformiert.





Exemplarisch werde ich nun einige Verfahrensweisen darstellen, wie ich sie in Prinzip für das ganze Stück angewandt habe.
Mit den Maßgaben von Quantität und Wiegenrhythmus (Symmetrie) und dem formal klanglichen Schwerpunkt wurden verschiedene Arten der Textdarstellung und Verarbeitung entwickelt:

In Teil 2 benutze ich im Sinne des Klanglichen Schwerpunkts um e alle Endsilben auf e die auch als verkürzte Version im Gedicht vorkommen. Die Endbuchstaben werden zum Einsatzpunkt der Silbe mit dem entsprechenden Anfangsbuchstaben. Durch den Anfangsbuchstaben der letzten Silbe kann eine klangliche Kreisbewegung erzielt werden.
 ge-t
 ge |
 |  tern-d
 |  tern |
 |       de-m
 |       de |
 |          mel-n
 |          mel |
 ge-            n
 ge
In Teil 3 benutze ich die wiederholten und die Verkürzten Worte des Gedichts als sowohl für die ganze Gestaltung der Form als auch für dessen Klanglichkeit. Gemäß ihrem Auftreten und ihren Wiederholungen werden sie mit der Semantik ihrer Verkürzung aufgelistet und die einzelnen Abschnitte einer Dauer zugeordnet. Analog zum Wiegenrhythmus wird der ganze Teil Accelerando- und Ritardandobewegungen unterworfen.















Komposition des Wortes "leise":



















[ Partiturausschnitt, 3. Teil, S. 8, 42 kb ]

Es folgen nun einige Beispiele von Ableitungen der rhythmischen Zelle:

Im Teil 4 benutze ich eine Rhythmische Version, in der sich nur in den angefügten Sechzehnteln Bewegung d.h. Melodie findet. In der Kernzelle von 5 Viertel wird ein Akkord ausgehalten, der eine Crescendo-, Descrescendobewegung bis zum Akkzent auf der Mitte verkleinert. Bei 10 Ajoutéesechzehntel springen diese in die Haupttaktzeit und die lange Crescendobewegung beginnt wieder. Hierdurch soll mit der Verwendung des Phonems n der Eindruck eines gedankenverloren singenden Kindes erreicht werden.

[ Partiturausschnitt, 4. Teil, S. 13, 32 kb ]

In Teil 5 benutze ich eine andere Version der 5 Viertel Hülldauer. Hier wandert der Einsatzpunkt kontinuierlich und wiederholt sich nach der Hälfte der Dauer. Diese Art rhythmisch komponierter Fläche sollte bei Akkorden und Glissandi zu einer besonders hohen Verschmelzung führen und den Einsatz unterschiedlicher Klangblöcke verwischen.

[ Partiturausschnitt, 5. Teil, S. 18, 36 kb ]

In Teil 11 wird die fließende Bewegung von stimmlichen zu geräuschhaften Konsonanten auf einer rhythmischen Reihe begründet die die auf einer Lesung der Viertel beruht.






Diese Bewegung wird mit ihrer eigenen Rückbewegung kontrapunktiert, die sich durch Verschiebung den Ausgangsrhythmus entstehen läßt Dafür wird eine gleichbleibende Länge verwendet.



Jede dieser Längen bekommt ein Crescendo als Teil einer großen Crescendobewegung.



Die Anbindung des Tonbandparts verhält sich formal kontrapunktisch in Vorwegnahme und Weiterführung der vokalen Klanglichkeit und gewährleistet so, trotz gleicher Inhalte die Unabhängigkeit beider Medien. Dabei sind für den Gesamteindruck des Stückes folgende Sachverhalte von Wichtigkeit:
- Symmetrie der Formteile
- Crescendoform in der Dynamik
- Accelerandoform des Tempos
- Entwicklung des Formantklanges von Hoch nach tief äquivalent zu der Quantitätsabnahme in dem Gedicht

Die Anbindung des Chorparts an das Tonband vollzieht sich folgendermaßen:

(In der Abbildung sind dargestellt von oben nach unten:
    Formteile 1 - 13
    Phoneme des Gedichts (quantitativ abnehmend)
    Phonembehandlung Chor
    Phonemklänge des Tonbands)
[ Anbindung des Vokalparts an das Tonband, 22 kb ]

Hier ein Beispiel für die Generierung eines Klangtakes des Tonbandparts:
In einem harmonischen Spektrum vom ersten bis zum 32 wird der Akkord des 6.,9.,10.,15.,17.,25.,28. Natürtons hervorgehoben. Es entsteht ein Klang um diesen Akkord, mit dem das Instrumentalstück beginnt. Analog dazu wird dieser Akkord auf den Stufen c0,g0,a0,e1,f#1,c#2,d#2,a#2 gespielt. Es entstehen 16 Klänge die in der Folge eines verkürzenden Wiegenrhytmus einsetzen und eine spezifische Form und Dynamik bekommen.

c0 1. <5", 0dB, bei 0", ch1
c0 2. =8", -12dB, bei 1", ch2
g0 1. >5", -12dB, bei 5", ch1
g0 2. <7">3", -12dB, bei 9", ch2
a0 1. <2">2", 0dB, bei 11", ch1
a0 2. =0.5", 0dB, bei 15", ch1
e1 1. >7", 0dB, bei 16", ch1
e1 2. <9", -12dB, bei 19", ch2
f#1 1. <0.5", 0dB, bei 23", ch1
c#2 1. <4">4", 0dB, bei 25", ch1
c#2 2. <0.5", 0dB, bei 28", ch2
d#2 1. =7", 0dB, bei 29", ch2
d#2 2. >0.5", 0dB, bei 33", ch1
f#1 2. =0.5", 0dB, bei 35", ch1
a#2 1. <3">1", -12dB, bei 36", ch1
a#2 2. >0.5", 0dB, bei 39", ch2
Die Abfolge der Einsatzabstände entspricht den Teilen 2-5 der folgenden rhythmischen Reihe analog zum Chorpart S. 27-28:

1. 1,2,4,4,2,4,3 = 20 (7)
2. 1,4,4,2,4,1 = 16 (6)
3. 3,4,2,3 = 12 (4)
4. 1,4,2,1 = 8 (4)
5. 3,1 = 4 (2)

Summen = 60 (23)



Zur Synchronisation des Chors mit dem Tonband wird das Stück nach einer Clickspur dirigiert, die auf dem Tonband enthalten ist und dem Dirigent per Kopfhörer zugespielt wird. Dadurch ist zwar die Genauigkeit der Einsätze des Chors zum Tonband gewährleistet, die Freiheit der Interpretation jedoch stark eingeschränkt.