CHTHON
Opera Media für zwei verstärkte Klanggruppen und Elektronisches Bühnenbild (1998/99)

Die Opera Media CHTHON (griech.: Erde) ist ein interdisziplinäres Kunstwerk. Der Komponist Dietrich Hahne und der Videokünstler Ivar Smedstad schufen ein Werk, bei dem die Disziplinen musikalische Komposition und Video gleichberechtigt nebeneinander auftreten und auf mehreren Ebenen miteinander kommunizieren. Dem intermedialen Ansatz des Werkes liegt eine zwischen den Künstlern gemeinsam erarbeitete synästhetische Haltung zugrunde, die nicht nur die Natur im weitesten Sinn in den Mittelpunkt der künstlerischen Arbeit rückt, sondern überdies auch medienintern neue Wege beschreitet. (Ergänzend hierzu der Programmtext zur UA vom 30.10.1999, Festival "ex machina", Folkwang-Hochschule Essen.)

Filmausschnitt zeigt Wasser/Mahlstrom & Moos/Morphing-Sequenz, Norwegen 1997

Der Musik von CHTHON liegt ein neuartiges Materialverständnis zugrunde, das nicht nur mit dem Sujet des Werkes zutun hat (Natur = Aufbruch, Blüte, Niedergang), sondern das eine freiere Definition des musikgeschichtlichen Materialbegriffs erlaubt. Dieser neue Materialbegriff resultiert aus der intensiven Erfahrung im Umgang mit den digitalen Medien und verändert(e) in nachhaltiger Weise den Blick der Künstler auf ihre musikalische/videographische Gegenwart. Gemeint sind:

A - absolute Verfügbarkeit = Materialgleichzeitigkeit
B - medienübergreifend-identische Werkzeuge zur Materialbearbeitung
C - Real-Time-Fähigkeit medienübergreifend-identischer Werkzeuge

A - Die absolute Verfügbarkeit aller (klingenden, abbildenden etc) Materialien ist mediale Gegenwart (Internet -> Real-Audio, Real-Video, Internet-Radio, Internet-TV, Digital-TV, CD-Rom, DVD etc); fast jedes Kunstwerk einer bestimmten Epoche ist in kürzester Zeit abrufbar und steht dem Hörer/Zuschauer zur Verfügung. Darauf kompositorisch zu reagieren ist, angesichts der lang gehegten, im dialektischen Diskurs gehärteten, jetzt aber enttäuschten Hoffnung eines unbegrenzt entwickelbaren musikalischen Materials, zwingende Notwendigkeit.
B - Die vorwiegend im digitalen Format vorliegenden Daten erzwingen sowohl technische, als auch (syn)ästhetische Werkzeuge, die nicht nur den uneingeschränkten Zugriff auf jene erlauben, sondern die überdies auch medienübergreifend-identische Methoden zur Materialbearbeitung ermöglichen; Bild und Ton sind, unabhängig ihrer technischen und ästhetischen Herkunft, im Rechner gleichzeitig-parallel veränderbar!
C - Zahlreiche kompositorische und gestalterische Veränderungen der musik- und bildinternen Struktur eines Kunstwerkes sind in Realtime (Echtzeit) darstellbar; der kontinuierlich-dialogische, künftig alle Sinne einschließende Prozess des Vorschlagens (Rechner) und Auswählens (Künstler) ist fundamentaler Herstellungsvorgang eines (Kunst)Werkes. (Die exakte Beschreibung der Schnittstelle zwischen Rechner und Mensch (= Interfacing) wird zentrale psychotechnische Aufgabenstellung des neuen Jahrhunderts!)

Konsequenz 1 (allgemein-theoretisch): die Vorstellung der (Musik)Geschichte als evolutionäre Abfolge einzelner Gattungen und Stile (Aufbruch, Blüte, Niedergang) wird durch eine Ebenenvorstellung abgelöst: mehrere Gattungen und Stile erleben zeitlich parallel ihren geschichtlichen Wandel. Aber auch diese Geschichtsvorstellung ist antiquiert. (Musik)Geschichte wird als n-dimensionaler Raum begriffen, in dem nicht nur zahllose Ereignisse zeitlich parallel stattfinden und zur Kenntnis genommen werden, sondern in dem auch der gezielte Zugriff auf Vergangenes möglich ist. In einem in jedem Punkt definierten, diskreten Raum wird die Reise zum einzelnen Raumpunkt machbar: die Existenz virtueller (d.h. rechnergestützt-diskreter) Welten ist längst mediale Gegenwart; ihre absolute Existenz, d.h. ihre ungeheure Schwerkraft, beginnt auf die "Wirklichkeit" Einfluß zu nehmen.

Konsequenz 2 (individuell-kompositorisch-psychisch): beim Hören von Musik aus historischer Zeit - zu der längst das 20. Jahrhundert gehört - geschieht es oft, daß musikalisches Erleben nicht nur durch begleitende Literatur, Sujetbeschreibungen, Analysen etc intensiviert wird, sondern auch den Impuls auslöst sich immer wieder mit der eigenen kompositorischen Arbeit in das komplexe, n-dimensionale, gleichsam paraorganische Geflecht einzubinden. Die starke Affinität zu grenzverwischender Einbindung in einen - trotz aller Heterogenität als einheitlich empfundenen - ästhetischen Organismus führt zu komplizierter Verinnerlichung, die Überliefertes zum Eigenen werden läßt. Diese aktive Entgrenzung bedeutet auch Enteignung, da historisch überkommenem Material seine individuelle Herkunft genommen wird und es statuarisch allgemeingültigen Charakter erhält. Das so neutralisierte musikalisches Material wird also nicht zitiert, sondern in einem komplexen kompositorischen Prozess ins (psychisch und akustisch) Gegenwärtige diffundiert. Dies ist nicht nur als eine Art elementarer Verbundenheit mit dem musikalisch-geistigen Erbe mitteleuropäischer Kultur zu verstehen, die die (Musik)Geschichte als etwas Nicht-Abgeschlossenes betrachtet, sondern hat grundlegend etwas von "Sich-Einverleiben", von "Gargantuösem", d.h. mit der Tatsache zu tun, daß Vergangenes auf eine Art und Weise vergegenwärtigt werden kann, daß dessen phänomenologische Grenze schwindet. Die starke rezeptive Emotionalität, mit der Ohr und Auge auf Vergangenes reagieren, scheint die Richtigkeit dieser Aussage zu bewahrheiten und als untrennbar von der eigenen schöpferischen Existenz auszuweisen. Ironisch zugespitzt: Enteignung durch Einverleibung. Die Ungeheuerlichkeit dieser Haltung bleibt allerdings reflexiv: Das aus einem nicht näher beschreibbaren ästhetischen Über-Ich gespeiste und stets kritische Bewußtsein entlarvt alle genannten Enteignungstendenzen als schlecht getarnte Regressionswünsche. Das Spannungsfeld in dem musikalischer Ausdruck entsteht, könnte umrissen werden mit: einerseits dem Wunsch Regungen, wie die an sich selbst erfahrenen umzuwandeln in für andere erlebbare Regung und andererseits die oft als kaum ertragbar empfundene Notwendigkeit in einem rekursiven Prozess alle nicht-enteigneten Töne, Allusionen und Objekte aus dem entstehenden Werk herauszufiltern. Insofern ist meine Musik insgesamt sowohl das Ergebnis von Reflexion, als auch Reflexions-Medium - wenn auch jetzt auf einer dritten (nach musikgeschichtlicher und ikonographischer Intertextualität) individuell-kompositorischen Ebene. - -