Concent

Streichquartett, Live-Elektronik

Die Tonhöhen des Stückes sind von einer 48stufigen Skala hergeleitet, in der jede Tonhöhe 4 Oktavlagen hat, die sich in ihren Umgebungstönen unterscheidet.

[ Abb. 1, Tonhöhenskala (PDF) ]

Die 4 Intervallumgebungen dieser 4 Oktavlagen sind: 1-1, 1-2, 2-1, 2-2 (1 = Halbton, 2 = Ganzton, s. Abb 1, Ton "d" mit Umgebungen). Durch sie wird die Oktavidentität im musikalischen Kontext verschleiert. Darüber hinaus entstehen unterschiedlich große chromatische, diatonische und gantzönige Felder. Für dieses Stück wurde eine Skala gewählt, in der die leeren Saiten der Streicher enthalten sind, um die damit verbundenen spieltechnischen Möglichkeiten (Mehrstimmigkeit) aufrecht zu erhalten. Die Begrenzung der Tonhöhen nimmt Bezug auf die Thematik des Stückes, indem die Anzahl der Möglichkeiten d.h. der Grad möglicher Freiheit von vorne herein eingeschränkt wird. Die Vierteltöne dieses Stücks sind nur als Schwebungen des Unisonos komponiert, um den Eindruck eines "gespannten" Tones, im Sinne einer inneren Spannung zu erzielen. Zentrales Intervall ist die kleine Sext, die in der Charakterisierung des Phrygischen häufig als "threnodische Sexte" (Intervall zwischen Finalis und Reperkussa) bezeichnet wird und damit den Zustand des trauernden Erinnerns an die Opfer der Konzentrationslager im 3. Reich symbolisiert.

Die Rhythmik des Stückes basiert auf einer linearen Reihe zu- und abnehmender Einsatzabstände, deren horizontaler Verlauf in dem metrischen Rahmen eines 4/4 Taktes vertikal auf 8 Stimmen abgebildet wird.

[ Abb. 2, rhythmisches Modell (PDF) ]

In der vertikalen Abbildung entsteht als Summenrhythmus eine durchgehende Sechzehntelrepetition (s. Abb 2, 1. Takt), die in ihrer äquidistanten Starrheit als Gitterstäbe einer Gefängniszelle evoziert werden können. Aus einem Verlauf zu- und abnehmender Einsatzabstände (1- 16 und 16 - 1 Sechzehntel, s. Abb. 2, 1. System) entsteht eine zirkuläre rhythmische Bewegung, die sich nach 17 Takten wiederholt (s. T. 18 = T. 1). Dieser Zyklus wird in dem gesamten Stück 16 mal (4 x 4) durchlaufen, indem nur die Einsatzabstände des rhythmischen Hintergrundmodells verwendet werden. Durch die Verschiebung der Einsatzabstände entstehen zwischen den Stimmen graduell sich verändernde Einsatzgruppen (s. Abb 2, durch Linien verbundene Töne). Wenn diese auf den Raum abgebildet werden, entstehen unterschiedliche Rotationen, die durch entsprechende Mikrophonierung der Instrumente quadrophonisch in 2 übereinander liegenden Ebenen verräumlicht werden (s. auch Partitur, Lautsprecheranordnung in der Zeichenerklärung). Diese Raumdrehungen repräsentieren die Ausweglosigkeit von Bewegungen eines Häftlings innerhalb der vier, immer gleichen Wände seiner Zelle. Die Zelle dieses Stücks ist damit ein Kubus, ein unmenschlicher Raum mit einem Höchstmaß an Ordnung, Struktur und Begrenztheit, dessen Quadratur sich sowohl in dem durchgehenden 4/4 Metrum, in der Form von 4x4 Durchgängen des rhythmischen Modells als auch in der Verräumlichung der Instrumente widerspiegelt.

Das Stück verwendet 4 klangliche Ikonen, die alle als Glissandostruktur ausgedrückt werden können und in verschiedenen Zusammenhängen in der Komposition erscheinen:
- Tropfen (s. Partitur T. 1 ff) steht für das Unwirtliche des Zelleninneren und die gedehnte Zeit des Wartens.
- Sirene (s. Partitur T. 76 ff ) repräsentiert die Exekutive einer Macht, die sich anmaßt über die Freiheit anderer zu bestimmen.
- Vogel (s. Partitur T. 117 ff)
- Wind (s. Partitur T. 120 ff) sind Ausschhnitte der Natur, wie sie durch ein Zellenfenster wahrgenommen wird.

Akkorde werden in diesem Stück vorzugsweise als Klangwände komponiert, deren innere Bewegungen immer wieder das gleiche Intervallgerüst entstehen lassen. Diese Methode steht in Analogie zu dem Bild eines Häftlings, der immer die gleichen Wände anstarrt, in der Hoffnung, ein Datail übersehen zu haben und doch immer nur das Gleiche sieht (s. Partitur T. 69 FF, T. 103 ff, T. 150 ff).

"Concent" enthält zwei musikalische Zitate:

"Lying to bend the truth." (aus "Lying away from You", Linkin Park)
Kollektive Erinnerung ist das Erinnern Einzelner an Einzelnes. Dadurch entsteht eine historische Tatsache als Mosaik vieler Erinnerungen. Verklärung und Vergessen der subjektiven Geschichte kann jedoch dazu führen, dass die Wahrheit soweit gedehnt wird, dass in der Gesamtsumme eine geschichtliche Wahrheit zur Lüge verkehrt wird. Diese Gefahr wird umso größer, je weiter die Ereignisse zurückliegen.

Anfang des Largo (aus dem 3. Streichquartett von Viktor Ullmann, Theresienstadt 1943)
Die Dodekaphonie erscheint hier zum Einen als Ausdruck der drakonischen Ordnung des Lagerlebens in Theresienstadt, zum Anderen als Sehnsuchtsmotiv einer vergangenen (Fugentechnik) und einer zukünftigen "besseren" Ordnung.